Halbwahrheiten Norbert Gstrein hält als versierter Erzähler ein Geflecht aus Hass und Selbsthass gekonnt zusammen: „In der freien Welt“: Verschlungene Konflikte
Von Christoph Schröder
Es ist ein gewöhnlicher Polizist in San Francisco, dem eine Erzählung, ein Stück Literatur also, als vermeintliches Beweisstück in einem Mordfall vorgelegt wird und der daraufhin einen zentralen Satz sagt: Er sei nur für beantwortbare Fragen zuständig, nicht für die unbeantwortbaren. Und: Je kürzer eine Geschichte sei, umso mehr unbeantwortbare Fragen enthalte sie.
Die Romane von Norbert Gstrein kreisen stets um die Frage, inwieweit Fiktion in der Lage ist, Menschen in ihrer biografischen Eindeutigkeit zu erfassen. Und inwieweit es eine derartige Eindeutigkeit überhaupt gibt. In seinen melodiösen Sätzen umstellt Gstrein sein Personal mit einem Gespinst aus Zweifeln, Halbwahrheiten oder Selbststilisierungen. Besonders reizvoll wird Gstreins Versuchsaufbau dann, wenn seine Bücher Themen aufgreifen, in denen die Uneindeutigkeit an sich bereits angelegt ist und die Identitäten ohnehin fragil sind. Im Krieg beispielsweise. Oder eben in der Literatur.
„In der freien Welt“ steigt ein mit einem Mord: Hugo, der Ich-Erzähler, erfährt von der Tötung seines Freundes John, der in einer dunklen Nebenstraße in San Francisco erstochen wurde. Die Motive bleiben im Dunkeln. Hugo ist Schriftsteller. John war Schriftsteller. Der Roman ist Hugos Versuch einer Annäherung, die zum Teil in weiten Erinnerungsschleifen besteht, zum anderen aber auch im konkreten Ansatz, Johns Leben an dessen Schauplätzen zu rekonstruieren.
John, 1,95 Meter groß, 110 Kilogramm schwer, in der Bronx aufgewachsener Sohn einer jüdischen KZ-Überlebenden, ist die rätselhafte Leerstelle, die es mit Material zu füllen gilt. Wer war dieser charismatische Mann, der Hugo fasziniert (und möglicherweise auch geblendet) hat? John, Zionist und freiwilliger Kämpfer im Libanonkrieg, ist an der Oberfläche ein radikaler Selbstentblößer; ein Frauentyp, der seinen Gangstercharme nach Belieben ein- oder ausschalten kann. Trockener Alkoholiker, eine Existenz am Rand, jederzeit bereit, andere mit in den eigenen Abgrund zu ziehen.
Auf der Hut sein
Aber schon bei diesen Zuschreibungen gilt es, auf der Hut zu sein. „Manches von dem Folgenden“, so heißt es im Vorsatz des Romans, „ist wirklich geschehen, aber ich bin nicht ich, er ist nicht er.“ Wer spricht hier? Gstrein oder Hugo? Hugo ist Schriftsteller. Seit neun Jahren hat er nichts mehr veröffentlicht. Ist der Tod des Freundes also möglicherweise, innerhalb des fiktionalen Rahmens, für ihn eine Chance zum schriftstellerischen Befreiungsschlag? Und nicht zuletzt: Hat er John überhaupt als den gesehen, der er war, oder nur als den, den er sehen wollte?
Die Erzählhelix von „In der freien Welt“ ist ebenso vielfach verschlungen wie der israelisch-palästinensische Konflikt, der zunehmend in den Mittelpunkt des Romans rückt. Hugo reist. Nach San Francisco, nach Jerusalem, in den Gazastreifen. Überall stößt er auf ein historisch-politisches Interessengemenge, in dem Eindeutigkeit nicht zu haben ist. Es sind auch zwei konträre Erwartungshaltungen an Literatur, die Gstrein in einem Gespräch zwischen John und Hugo exemplarisch vorführt: „Weniger Bücher, mehr Wirklichkeit, weniger Denken, mehr Sex, und ich sagte zu ihm, ich könne auf seine street credibility pfeifen, auf die er sich so viel zugutehalte, wenn das auf dem Papier nur Chaos und Auflösung bedeute.“
Das Frappierende ist: So widersprüchlich und verwirrend das Muster an Zweifeln und Erkenntnisfallen, das unter den Text gelegt ist, bei näherer Betrachtung auch sein mag, so mitreißend liest sich der Roman auf der anderen Seite. Gstrein ist ein glänzender Kompositeur von Einzelszenen; ein versierter Erzähler, der die chronologisch ungeordneten Kapitel in einem großen Bogen zusammenhält. „In der freien Welt“ ist ein spannendes Buch, weil Gstrein darin untersucht, wie sich ästhetische, vor allem aber politische Ideologien auf die Handlungszwänge des Einzelnen auswirken. Palästinensische Kämpfer, amerikanische Zionisten, deutsche Philosemiten mit Schuldkomplexen – sie alle werden in ihren Motivlagen durcheinandergewirbelt und in immer wieder neue Konstellationen gebracht, geprüft, von allen Seiten betrachtet, wieder neu arrangiert.
Krieg und Literatur
Hass und Selbsthass, vermeintliche autobiografische Wahrhaftigkeit und gezielte Daseinstäuschungen bilden ein nahezu undurchdringliches Geflecht, das von Gstrein nicht aufgelöst, aber durchdrungen werden will.
„In der freien Welt“ steht innerhalb des Gstrein’schen Werks in einer geradezu zwangsläufigen Konsequenz. Noch einmal: Im Krieg und in der Literatur (man denke an den Schlüsselroman „Die ganze Wahrheit“) wird Eindeutigkeit mit dem Preis extremer Simplifizierung bezahlt. Dazu ist Norbert Gstrein nicht bereit. Das spricht für ihn. Erst recht dann, wenn es ihm gelingt, aus und in dieser Erkenntnis einen so unterhaltsamen Roman zu schreiben.
Norbert Gstrein: „In der freien Welt“. Hanser Verlag, München 2016, 494 Seiten, 24,90 Euro
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