: Hälfte des Lebens – frischer Wind
Ulrike Längle beweist: Literatur light ist kurzweilig und so schön wie Blumen vor dem Haus ■ Von Leopold Federmair
Vermutungen? Über die Liebe? 200 Seiten lang schildert Ulrike Längle in ihrem neuen Buch einen ganz normalen Urlaubsaufenthalt in Schweden, beschreibt zahllose Zimmer fremder Häuser, zählt die Merkmale zahlloser Dinge auf, gibt den Substantiven die passenden Attribute. Ihre Stellvertreterin im Buch, Fanny heißt sie, hat ein unkompliziertes Verhältnis zu ihrer Umgebung. Sie ist an Nutzen und Funktion interessiert, aber auch ein bißchen sentimental.
Erst auf Seite 215 kommt ans Licht, was die Fanny den ganzen Urlaub über neben den Erinnerungen an ihre weit zurückliegende Beziehung zu Egon, dem Philosophen, in ihrem Kopfe gewälzt hat: „Wenn Sie recht haben, bin ich der Sohn eines Bauern, der mit seiner Tochter, die gar nicht seine Tochter ist, ein Kind hatte und nach Amerika ausgewandet ist.“ Das sagt Anton, der Besitzer des fremden Hauses, erstaunt über das, was ihm Fanny über ihn und seine Eltern erzählt. Die Leser soll das so in Staunen versetzen wie Anton selbst, der aus ihm, dem Staunen, nicht mehr herauskommt. Ehrenwort der Autorin.
Fannys Vermutungen gäben Stoff für eine zehnseitige Geschichte à la Borges, nüchtern inszeniert, lakonisch erzählt, rätselhaft – Ulrike Längle hätte dazu das Zeug, wie ihre ersten Bücher bewiesen haben. Als Roman aber ist das Ganze von einer ausgesuchten Biederkeit, die bei dem exemplarischen Leser, der ich bin, nichts als Desinteresse weckt. Das desinteressierte Lesen hat etwas Angenehmes, fast Wohliges. Man streift so über die Zeilen, klappt am Ende das Buch zu und denkt: Na ja, wieder ein paar Stunden Zeit vertrieben. Oder, um es mit der angemessenen Biederkeit zu sagen: Das Buch hat „frischen Wind in mein Leben gebracht“. Das haben wir doch alle not, ein wenig frischen Wind, einen jugendlichen Liebhaber, Blumen vor dem Haus, Erinnerungen an das vergangene Leben, Phantasien, die eine Zeit jenseits der Zeit beschwören. Ja, Literatur light ist eine kurzweilige Sache. Noch einmal wird hier bewiesen, daß die Alternative kurzweilig/langweilig als ästhetisches Kriterium unbrauchbar ist. Oder daß Literatur heute über ästhetische Kriterien längst hinaus ist. Abgeworfener Ballast, die Bücher fliegen. Was zählt, ist der gute (nach Belieben auch schlechte) Geschmack.
Eines ist das Buch übrigens auch, wenn man so will, nämlich ein Rückblick einer typischen Vertreterin der 70er-Jahre-Generation (Latzhose, Vollbärte, Frauen- und Männeremanzipation, fortschrittliche Ideen, sexuelle Befreiung, alte Heuchelei) auf typische Probleme, Diskussionen, Lebensgefühle, Beziehungskisten dieser „grünen Zeiten“, wie der Titel von Walter Kliers neuen Buch lautet, eines anderen westösterreichischen Vertreters dieser Generation, die unversehens in die Jahre gekommen ist. Mittlerweile schreiben auch die Töchter und Söhne der 68er ihre Lebensgefühl-Romane, siehe „die Schweizerin“ Zoe Jenny. Die Generationen drängeln sich auf dem Literaturmarkt, auch die Älteren mit ihren Alterswehwehchen sind nicht schreibfaul. So können sich alle wiedererkennen und über sich lächeln oder (nach Belieben) weinen.
Ulrike Längle: „Vermutungen über die Liebe in einem fremden Haus“. Roman. S. Fischer, Frankfurt/Main 1998, 192 Seiten, 34 DM
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