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Häftlinge drohen mit Hungerstreik

■ Dieselben Staatsanwälte entscheiden über Haftverkürzungen, die zuvor nicht zimperlich die Anklage führten Gefangene fordern entscheidende Verbesserung der Haftbedingungen / Brief an den Justizminister gesandt

Zwickau Die Haftbedingungen in der Untersuchungshaftanstalt Zwickau sind alles andere als befriedrigend. Als ich die Küche betrat, wurde mir speiübel vom Gestank. Ich kostete den Eintopf, konnte aber nicht mehr als fünf Löffel essen. Der Kommentar des Wirtschaftsleiters: „Alles eine Frage der Gewöhnung.“ Am Nachmittag erfahre ich folgendes: Als ein Gefangener das Essen verweigert hatte, bekam er vom Leiter der Anstalt die Antwort, was er nur habe, mir (dem Verfasser) hätte es geschmeckt.

Seit Monaten sollen die Sichtblenden (behindern Luftzirkulation) vor den Fenstern entfernt werden. An den Straßenfassaden ist dies auch geschehen. Viele dieser Verwahrräume sind aber nicht belegt. Zur Hofseite zu sind etliche Gefangene untergebracht, hier sind die Sichtblenden nicht entfernt. Dies ziehe sich aus technischen Gründen hin, ist die Erklärung des Leiters.

In der kleinen Verkaufsstelle zum Beispiel sagt der für den Verkauf verantwortliche Strafgefangene, schon seit Wochen habe er gemeldet, daß der Bestand an Zahncreme vollkommen überaltert sei. Dies erweist sich dann auch als richtig; dem müsse nachgegangen werden, so der Leiter. Nun muß aber deutlich gesagt werden: Das alles und noch viele Mißstände ähnlicher Art sind nicht der Grund, der die Gefangenen einen Hungerstreik ab kommenden Don nerstag ankündigen läßt. Es ist vielmehr die unerträgliche Situation, daß Anträge auf Haftverkürzung über dieselben Staatsanwälte laufen, die vor Jahren nicht zimperlich die Anklage geführt haben. Es ist die Tatsache, daß der Paragrah 44 über Strafverschärfung bei Rückfallstrafen nicht rückwirkend aufgehoben wird.

Das heißt: Viele sitzen Haftstrafen ab, deren gesetzliche Grundlagen nicht mehr in dem Maße gegeben sind, wie zur Zeit der Verurteilung. Wenn heute die ehemalige Prominenz für ihre Bereicherung an Hunderttausender-Beträgen vergleichsweise geringe Haftstrafen auferlegt bekommt, geraten die Gefangenen vollends in Wut, die wegen erheblich kleinerer Summen das doppelte der Zeit absitzen und auf Gnadengesuche keine Antwort bekommen. Es ist auch die Tatsache, daß Bagatellstraftaten oft sehr hoch gesühnt werden, daß psychisch kranke Täter für voll zurechnungsfähig erklärt werden. Ganz zu schweigen von den Jugendlichen unter 18 Jahren, die allein schon Monate in der Untersuchungshaft zubringen müssen, ehe es zu einer Verhandlung kommt.

Es geht also nicht um alte Zahncreme. Es geht um Sachverhalte, für die das Justizministerium die letzte Verantwortung trägt. Am 1. Mai 1990 wurde vom Gefangenenrat der Untersuchungshaftanstalt Zwickau ein Brief an den Justizminister abgesandt. Wenn bis zum 23. Mai keine Antwort vorliegt, wollen die Gefangenen einen Hungerstreik beginnen. Diese Anliegen der in Zwickau Inhaftierten unterstützen wir, die Mitarbeiter der Anlaufstelle für Haftentlassene, 9540 Zwickau, Moritzstraße 17.

Für die Glaubwürdigkeit der jungen Regierung ist es wichtig, daß nicht durch Maßnahmen seitens der Haftanstalten reagiert wird, sondern eine sachliche Information durch das Justizministerium über die rechtliche Lage erfolgt. Versprechungen haben die Gefangenen im November 1989 zu Genüge gehört. An der Gefängnisfassade hat sich auch einiges geändert. Sind aber auch konstruktive Gespräche hinter der Fassade möglich?

Norbert Mai, Diakon in Zwickau

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