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Habermas wird 80Die Trümmerfrau der Philosophie

Jürgen Habermas wird 80. Er erlebte noch den Nationalsozialismus, befreite die "Dialektik der Aufklärung" von ihrer resignativen Perspektive und wurde zum Projektleiter der Moderne.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Habermas! Bild: ap

Wie nähert man sich einem Giganten? Wie wird man ihm gerecht? Im Fall von Jürgen Habermas wohl überhaupt nicht.

Man kann nur versuchen, sich einen Weg durch sein monumentales Werk zu bahnen - oder eher einen Trampelpfad. Der vorliegende nimmt seinen Ausgang bei einem kurzen autobiografischen Text über seine Anfänge in und mit der Frankfurter Schule - also seine Zeit als Assistent von Theodor W. Adorno Ende der Fünfzigerjahre - mit dem schönen Titel " Die Zeit hatte einen doppelten Boden".

Bild: taz

Das komplette Habermas-Dossier zum 80. Geburtstag lesen Sie auf vier Seiten in der taz - am heutigen Donnerstag, den 18. Juni, zusammen mit der taz am Kiosk.

Dort schreibt Habermas, es gehe darum, "die Substanz der eigenen großen Traditionen auf dem einzig möglichen Wege - durch die unerbittliche Kritik an deren Entstellung" zu retten. Während Adorno und Max Horkheimer im Angesicht des Nationalsozialismus resignativ die "Dialektik der Aufklärung" festgehalten haben, unternimmt es Habermas, nach "dieser unvergleichlichen Verletzung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit" jene Traditionen zu bergen, die der moralischen Katastrophe standhalten.

Nach der dekonstruktiven Kritik der "alten" Frankfurter trat Habermas an, um trotz ihrer destruktiven Dialektik eine Basis für das Aufklärungsprojekt zu finden, es nach seinem Scheitern wiederherzustellen - eine Trümmerfrau der deutschen Philosophie gewissermaßen.

Nach Auschwitz galt es, den abgerissenen Faden wieder aufzunehmen, die besseren Traditionen zu retten. Nicht im Sinne einer Verdrängung, sondern gerade eingedenk der Katastrophe durch eine kritische Aneignung der Bestände. Das hieß, alle Negierungen zu bewahren, die die fortschrittsoptimistischen Kategorien erfahren haben, und sie dennoch - gewissermaßen "kontrafaktisch", wie ein zentraler Habermas'scher Begriff lautet - wiederherzustellen.

Die kulturelle Erbschaft galt es, kritisch aufzuarbeiten - und sie gerade dadurch anzutreten. Diese Anstrengungen der Dialektik führten dazu, dass für den großen Kritiker der Postmoderne das Präfix "post" selbst symptomatisch wurde. Das "unvollendete Projekt der Moderne" ließ sich nur dann weiterführen, wenn die Kategorien der Aufklärung - Vernunft, Subjekt, Gesellschaft - nunmehr als postkonventionelle, posttraditionale, postnationale reformuliert werden. Nur so konnten sie wieder ins Recht gesetzt werden und gegen immer neue Angriffe verteidigt werden.

Die erste zentrale Begriffsbaustelle war die zur Vernunft. Der Begriff Vernunft war schwer angeschlagen. Er sollte, instrumentell, maschinell verstanden, die Schuld am Scheitern der Aufklärung tragen. Eine große Hypothek. Andererseits brauchte das Projekt der Moderne, das sich nicht mehr durch Traditionen legitimieren kann, die Vernunft, um sich aus sich selbst heraus zu begründen. Die "Theorie des kommunikativen Handelns", die nun vor schon 28 Jahren erschien, war der philosophische Befreiungsschlag, mit dem Habermas die Rationalität aus dieser Sackgasse herausführen wollte.

Es war eine Rettung wie bei einer Ballonfahrt: Man steigt auf, indem man Gewicht abwirft. Jene Rationalität, der es nur um die Verfügung geht - übers Subjekt, über die Natur -, wird aus dem Aufklärungsprojekt aussortiert. Für diese stimmt das Verdikt der Dialektik der Aufklärung. Aber durch diese Entsorgung gewinnt Habermas eine ganz andere Form der Vernunft - jene kommunikative Rationalität, die das gesamte Unternehmen der Moderne nach ihrem Scheitern noch mal retten soll. Die kommunikative Rationalität ist eine, die der Gefahr ihrer Verabsolutierung entgeht, eben weil sie nicht im einzelnen Subjekt verankert ist, sondern in der Verständigung.

Der Clou: Statt um Erfolg geht es hier um die Erzeugung von Einverständnis. Damit sind wir aber bereits bei der zweiten Baustelle, beim Begriff des Subjekts, und die Trümmer, die diese zupflastern, sind keineswegs kleiner. Gerade um das Subjekt sieht es ziemlich traurig aus nach all den Attacken, denen es sich ausgesetzt sah. Wer hat sich nicht alles daran abgearbeitet, das bürgerliche Subjekt zu dekonstruieren, zu dezentrieren, zum Verschwinden zu bringen. Von Niklas Luhmann über Jacques Derrida und Michael Foucault bis weit hinein in die marxistische Linke eines Louis Althusser wurde der Begriff des autonomen Subjekts bekämpft.

Völlig zerpflückt wurde es einem subjektlosen, einem geschichtlichen Prozess zugeordnet, in dem die Vorstellung, es sei der Autor des Geschehens, nur noch eine perspektivische Illusion war. Habermas musste hier also einen Mehrfrontenkampf aufnehmen, um diese Angriffe abzuwehren, der 1984 in dem Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne" seinen Höhepunkt fand.

(In diesen permanenten Auseinandersetzungen liegt vielleicht auch der Grund, dass Habermas gleichermaßen moralische Autorität und Machtinstitution ist. Eine Widersprüchlichkeit, die den jungen Slavoj Zizek einmal von Habermas' "Fußnotenpolitik" stöhnen ließ, die wie der cäsaräische Daumen über die Anerkennung von Theoretikern entscheide. In einer Habermas'schen Fußnote genannt zu werden, käme einer Nobilitierung gleich, ungenannt zu bleiben hingegen sei ein vernichtendes Urteil.)

Habermas brauchte für seine kommunikative Vernunft ja unbedingt ein kommunikativ handelndes Subjekt. Der Wiederaufbau hat dann etwas ergeben, was wieder ein Subjekt war, das aber nicht mehr ganz im Zentrum stand. Wir alle kennen Habermas' Unterscheidung von System (wie Wirtschaft, Geld und staatliche Administration) und Lebenswelt sowie das berühmte Wort von der "Kolonisierung der Lebenswelt" durch die systemischen Mächte. Die einseitige ökonomische und bürokratische Rationalität lasse das Zusammenleben verkümmern - während die lebendige Kommunikation, die Interaktion kommunikativer Subjekte, wie deren Abwehr funktioniere.

Dieses zweistufige Gesellschaftskonzept beinhaltet eine ganze Reihe von Szenarien, die alle dieselbe Grundstruktur aufweisen: ob "ideale Sprechsituation" oder "herrschaftsfreier Diskurs"- all das sind nicht bloße Fiktionen, wie Kritiker es ihm oft vorgeworfen haben, sondern bewusst kontrafaktische Unterstellungen. Bei solchen darf man aber die "faktische Kraft des Kontrafaktischen" nicht übersehen, also die Möglichkeit, das Unterstellte eben damit auch hervorzubringen. Autonomie, wirkliche Verständigung, Diskursivität, ja selbst die Mündigkeit des Bürgers entstehen quasi performativ. Damit bekommt das Habermas'sche Unternehmen auch eine pädagogische Seite.

Interessant ist, dass eben solch eine Operation mit der Unterstellung beim französischen Theoretiker Jacques Lacan zur Unterwerfung führt, während sie bei Habermas in Freiheit münden soll! Jene Freiheit, die er für seinen Demokratiebegriff braucht, den er aus den Trümmern von Partizipation, Öffentlichkeit und Deliberation zu bilden versucht. Das geht so weit, dass er sogar eine "Post"-Variante für Patriotismus anbietet.

Im Kontext des sogenannten "Historikerstreits" Ende der Achtzigerjahre präsentierte Habermas mit dem Konzept vom Verfassungspatriotismus das einer postkonventionellen politischen Identität. Er transformierte das verwundete Nationalgefühl in ein kritisches Substitut: Verfassungspatriotismus ist ein radikal entsubstantialisierter Patriotismus, der jenseits von Abstammung und Sprache einen Modus der Zugehörigkeit zu Gesellschaften zu denken versucht.

Habermas' neueste große Baustelle ist die Religion, wo er neuerlich versucht, eine das Religiöse rettende Säkularisierung zu konzipieren: die postsäkulare Gesellschaft, die einer "entgleisenden Moderne" Einhalt gebieten soll. Horkheimer bezeichnete den ganz jungen Habermas als den "dialektischen Herrn H.".

Dieser ist dem Diktum treu geblieben.

ISOLDE CHARIM, 50, Publizistin und Philosophin (u. a. "Der Althusser-Effekt. Entwurf einer Ideologietheorie", 2002), lebt in Wien

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11 Kommentare

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  • F
    Franke

    Endlich mal wieder ein Artikel, der in so einer kürze, so Vieles probiert zu erklären.

     

    Vielen Dank dafür und mehr davon.

    Wir brauchen solche Köpfe!!!!

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Ohne Steuerungssystemtheorie des Evolutionsprozesses, deren Erkenntnisschritte lt. Chaosphysik immer in einer bislang unbekannte gniepunktpolitischen Praxis mündet, muß man wohl die geistigen Vorläufer einer solchen Evolutionsprozess-Theorie so sehen, wie es Habermas gesagt und getan hat: "... 'die Substanz der eigenen großen Traditionen auf dem einzig möglichen Wege - durch die unerbittliche Kritik an deren Entstellung' zu retten." Doch m i t einer solchen praxisfreundlichen Theoriegrundlage wird aus den großen Traditionen ein wunderbares, weltrevolutionäres Exodus-, Übergangs- und Fortschrittprojekt ins Reich des KREATIVEN und der Freien werden. Konkrete Innovationen und konkrete, selbstdurchsetzende Steuerungssystem-Alternativen zum herrschenden Wachstumszwang-Regime der Kapitalstockmaximierer sind das evolutionsprozess-logische Ergebnis solcher Universaltheorie. Die Inkompetenz der zuständigen Wissenschaften in der gegenwärtigen 6%-Wachstumsabsturzkrise zeigt, dass den Vertretern von Philosophie, Ökonomie und Soziologie die rettende und widerständige Theoriegrundlage fehlt. Die aktuelle, vorrevolutionäre Phase hin auf eine Weltrevolution in die nachfolgende Ordnung-des-KREATIVEN des weltindustriellen Prozesses wird öffentlich als solche nicht wahrgenommen. Mit Folgen: noch tanzt das unerkannte Rumpelstilzchen an der Spitze des Ancien Regime. Von der geistesgeschichtlichen Synthese, die den Ordnungsübergang steuern und tragen wird, wird der Mainstream von Philosophie und Soziologie überrascht werden. Dieser evolutionsprozess-theoretische Erkenntnisstand muß und wird sich in der 6%-Wachstumsabsturzkrise des weltindustriellen Fortschrittsprozess bewähren - und zwar dominomächtig. Außerdem wird er einfach sein und elegant daherkommen? Dann werden viele Trümmerfrauen und -Männer nötig sein.

  • HW
    Harald Wenk

    Foucault hat sich zustimmend zur kritischen Theorie und Habermas geäußert. Ebenso Deleuze/Guattari zu den Habermas Schüler Pendant Negt/Kluge, die jene benutzen.

    Ein herrschaftsfreier Diskurs lädt gerdezu zu einer Aufnahme der Konzeptionen und Analysen der Mikromachtpraktiken von Foucaultund dem Poststrukturalismus ein, die zeigen, wo er im Keim erstickt oder verbogen wird.

    Auch die Macht der systemischen Mächt kommt dort klar heraus.

     

    Habermas Wendung zur Religion als "auf der religösen Seite taub" ist in der Erweiterung der Kommunikation auf diese Handlungen und Theorien,

    damit es eben wirklich sozialisiert und der kommunikativen zugänglich wird.

     

    Die Vernunft ist allerdings doch von der objektiven Mathematik abgeleitet.

     

    Nun, bei der Debatte um das "Nicht"autonomieubjekt geht es um die Feinanalysen der Subjektivierungen durch psychische Krisen, Zwänge, die Gefühlsbinndungen bei Übernahnme sozialer Praktiken und Diskurse.

     

    Leider ist das Vertrauen in die Lebenswelt da

    wenig gerechtfertigt, die Sabotage der Autonomie und Freiheit geht viel weiter und tiefer bis in die Körper, als es bei einer sozilphiloshischen Perspektive des Individuums oft in den Blick kommt.

  • KK
    Karl Kraus

    Kompliment für diesen Artikel. Erstaunlich, in welcher Kürze er so vieles auf den Punkt bringt. Wer so schreiben kann, sollte öfter zu Wort kommen. So könnte man immer mal wieder das Niveau von Zeitungen enorm heben und auch diejenigen beglücken, die tiefer über unser gemeinsames Leben ("die Gesellschaft" und ihre positiven Möglichkeiten) nachdenken als der Alltagsjournalismus. Herr Habermas ist einer der klügsten und realistischsten Utopisten, die ich kenne.

     

    Vielen Dank, Frau Charim!

    Herzlichen Glückwunsch und meine Hochachtung, Herr Habermas!

  • CD
    carpe diem

    Die taz überrascht auch nicht mehr. Der Artikel über Habermas zeigt nur auf, dass das Denken der taz-Redakteure sich seit 40 Jahren nicht verändert hat. Alles was auch nur den Anschein eines 68er erweckt und Habermas sowie die gesamte Frankfurter Schule war 68er, wird in den Himmel gehoben. Habermas war ein Schwafler, seine Aussagen sind das Papier nicht wert auf dem sie gedruckt worden sind. Und wenn die Leser der taz einmal einen guten Artikel über Habermas lesen wollen, sollten sie bei Focus nachsehen. Aber dann müssten sie erst ihre verkrusteten Denkstrukturen aufbrechen, damit sie verstehen, was dort geschrieben steht. Mit dem Artikel kann man sich auch lächerlich machen.

  • L
    lise

    Man kann angemessen über Habermas schreiben, ohne Luhmann zu denunzieren und den unsinnigen und heute überwundenen ideologischen Streit aus den 70ern zu reproduzieren. Weder die Systemtheorie - noch weniger Luhmann selbst - "bekämpft" das autonome Subjekt bzw. das, was damit bezeichnet sein soll. Im Gegenteil. Sie hat aber einen anderen Begriff, eingebunden in ein anderes Theoriesystem, für das menschliche Individuum: (autopoietisches) psychisches System (in Unterscheidung zu anderen sozialen Systemen). Nirgendwo wird übrigens dem Bezeichneten soviel "Autonomie" und "Eigenverantwortung" (hier in Gänsefüßchen, weil es sie in dieser Form in der Systemtheorie nicht geben kann) zugesprochen, wie gerade in der Theorie autopoietischer Systeme.

    Das beste Buch über Habermas hat Friedrich Tomberg geschrieben: "Habermas und der Marxismus", 2003.

  • R
    Roland

    Man, besser frau, kann auch Habermas prägnant und verständlich darstellen. Kompliment!

  • M
    mobai

    was für ein wunderbar lesbarer Artikel. Und das in der taz! :P

  • H
    hessebub

    Lieber Habermas'sche Fußnotenpolitik als das selbstverliebte Jargongewichse der Postmoderne. Aber die hat ja glücklicherweise außer bei manchen selbstkorrektur-resistenten Akademikern abgewirtschaftet. Herr H. dagegen ist relevanter denn je (in den USA und Asien weiß man das sogar besser als hier). Happy Birthday!

  • H
    hto

    "Nach Auschwitz galt es, den abgerissenen Faden wieder aufzunehmen, die besseren Traditionen zu retten."

     

    Dieser Faden heißt Konfusion, der im Kreislauf / "Tanz um den heißen Brei" nun wieder seine stumpfsinnige Tradition von Kommunikationsmüll in materialistischer "Absicherung" reformiert aufgenommen hat - hierarchische Illusionen in gebildeter Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche von "WER SOLL DAS BEZAHLEN?".

     

    Die Menschheit braucht keine "besseren" / leichtfertig-kapitulativen Traditionen, sondern eindeutig wahrhaftig wirksame!!!

  • AV
    Antonia Vorberg

    Einen Trümmer-M a n n hat's also nie gegeben...?

    Doch! Heinrich Böll und Hans Bender und die rückkehrenden Soldaten.

     

    Ansonsten waren es fast alles Theoriemänner.

    Ist schon eine NSDAP-Karteikarte vom dialektischen H. aufgetaucht? - Oder war er zu alt/zu jung/zu unmusikalisch/zu fronthelferisch/zu un-joachim-festisch?