Haarige Gedanken: Das Rendezvous der Renate F.
■ Die neue taz-Sommerserie: Aus der lehrreichen, erbaulichen Lebensbeichte des Huckelrieder Friseurmeisters B. Jablonski – 1.Folge
Zur sommerlichen Erbauung stellen wir das Rezensieren und Kritisieren in den Hintergrund und servieren wieder eine Serie. Unser Autor Tim Ingold, der im vergangenen Jahr die abenteuerliche Geschichte der Erstbesteigung des Bremer Müllbergs erzählte, hat sich in diesem Jahr etwas neues vorgenommen. Er enthüllt die Geheimnisse aus dem Tagebuch des Huckelrieder Friseurmeisters Bruno Jablonski.
Ich war ein guter Friseur, ich war einer der besten. Prominente Köpfe verließen meinen Salon selig lächelnd. Ich war ein eifriger Handwerker, ein inbrünstiger Stylist, ein Enthusiast mit dem Hang zur Genialität. Ich war mit ziemlicher Sicherheit der beste Friseur in Huckelriede. Dennoch gab es auch schwarze Tage in meiner Berufslaufbahn – und ich will sie nicht verschweigen, nun, da mir Meistertitel und Konzession aberkannt worden sind und in meinem ehemaligen Salon ein Geschäft für Anglerbedarf Einzug gehalten hat.
Es war ein Freitag im Juli des Jahres 1997. Ich hatte eine gute Woche gehabt, die Abrechnung gemacht und war gerade dabei, meinen Salon von außen abzuschließen. Plötzlich stand Renate F. neben mir, eine Rechtspflegerin, die ich schon einige Male frisiert hatte. Sie war den Tränen nahe und redete maschinengewehrartig auf mich ein. „Herr Jablonski“, flehte sie mich an, „bitte, bitte, nehmen sie mich noch dran! Ich habe morgen ein Blind Date mit einer Internet-Bekanntschaft, der junge Herr ist Redakteur bei einer Tageszeitung und soll sehr gut aussehen, wir haben uns wochenlang die glühendsten Mails geschrieben – und morgen ist es nun soweit, wir haben uns in einem Restaurant verabredet und ich hätte soooo gerne diese Frisur hier!“ Sie hielt mir die aktuelle Ausgabe von „Vanity Fair“ unter die Nase. Auf dem Cover war Lady Di mit ihrem „neuen Look“ abgebildet: glatte Haare, platinblonde Strähnchen, keine Spur mehr von der unsäglichen Fönfrisur vergangener Jahre. Die Renate F. momentan noch trug. Ich konnte ihre Verzweiflung nachfühlen; und obgleich ich mich schon auf mein wohlverdientes Wochenende gefreut hatte, schloß ich deshalb meinen Salon wieder auf und bat sie, einzutreten.
Was dieser Entscheidung zusätzlich so etwas wie moralischen Nachdruck verlieh, war die Tatsache, daß Renate F. – nun ja, wie soll ich es ausdrücken – nicht unbedingt zu der Gruppe von Menschen auf diesem Erdball zählte, die man innerhalb eines von den herrschenden Schönheitsvorstellungen bestimmten Diskurses als attraktiv bezeichnen würde. Nach nüchterner Abwägung aller Fakten mußte gar die Erkenntnis übrigbleiben, daß das morgige Treffen wahrscheinlich die letzte Möglichkeit für sie war, in diesem Leben noch jemanden abzukriegen. Es wäre schlicht unmenschlich von mir gewesen, ihr diese Chance zu vereiteln.
Alles lief nach Plan. Ich fand auf Anhieb den richtigen platinblonden Farbton, Renate F. plauderte fröhlich und war, was ihr morgiges Rendezvous anging, bester Dinge. Dann schlug der Blitz des Schicksals ein. Auf der Straße vor meinem Salon wurde schrilles Reifenkreischen laut, zwei Autos rasten ineinander und verformten sich mit unschönem Geschepper. Wir starrten beide wortlos aus dem Fenster, Renate F. erhob sich aus dem Frisierstuhl, um besser sehen zu können. In diesem Moment wußte ich, daß etwas Schlimmes passiert war. Ich schluckte und schaltete die elektrische Haarschneidemaschine aus. Der nachfolgende Blick bestätigte die ärgsten Vermutungen: auf Renates Kopf befand sich mittig eine etwa handbreite Schneise, tief bis auf die Kopfhaut. Ein invertierter Irokesenschnitt. Ich bereitete mich innerlich auf den heftigsten hysterischen Ausbruch vor, den ich mir vorstellen konnte und faßte den Entschluß, sie nötigenfalls mit dem Kabel der Haarschneidemaschine zu fesseln. Was glücklicherweise nicht erforderlich war: Sie sah in den Spiegel und wurde sofort ohnmächtig.
Ich schloß den Salon von innen ab, ließ die Jalousien herunter, rauchte eine Packung Zigaretten und zerkaute mir die Fingernägel. Zu annähernd gleichen Teilen quälten mich die Sorge um Renate F. und die Sorge um meinen guten Ruf. Dann faßte ich einen Entschluß: Es half nichts, die restlichen Haare mußten auch noch runter. Während ich ihr den Dalai-Lama-Look verpaßte, machte sie Anstalten, aus ihrer Ohnmacht zu erwachen. Ich mußte ihr also notgedrungen eins mit dem schweren, metallenen Fön überziehen, um sie ruhigzustellen. Dann holte ich eine Perücke, setzte sie auf einen Frisierkopf und modellierte den „neuen Look“ von Lady Di. Beim nachfolgenden Anpassen des Haarteils mußte ich jedoch feststellen, daß die große, violette Beule, die sich auf ihrem Schädel gebildet hatte, den korrekten Sitz der Perücke verunmöglichte.
Also schnitt ich ein Loch in die Zweitfrisur, um der Schwellung den ihr gebührenden Platz einzuräumen. Mithilfe einer Tube Pattex, die ich in der Schublade unter der Kasse fand, sorgte ich für festen Halt und komplettierte so mein Werk.
Renate F. kam wieder zu Bewußtsein, nachdem ich ihr eine Flasche Haarwasser unter die Nase gehalten hatte. Sie war benommen, brachte aber trotzdem beim Blick in den Spiegel ein Lächeln zustande. Auf die Frage, was passiert sei, antwortete ich ihr nicht ganz wahrheitsgemäß, daß der Autounfall der Grund für ihre Ohnmacht gewesen sei. Sie bezahlte, murmelte etwas von Dank und Lebensrettung und schlurfte aus dem Salon.
Am folgenden Montag erreichte mich eine Postkarte von ihr, Motiv: Timmendorfer Strand. „Lieber Herr Jablonski! Ich möchte mich noch einmal für Ihr selbstloses Handeln bedanken. Das Treffen war ein großer Erfolg. Mein Christoph und ich sind gleich übers Wochenende an die Ostsee gefahren. Wir sind sehr, sehr glücklich! Mit den herzlichsten Grüßen, Ihre Renate.“ Zwei Tage später wurde sie von einem Lastwagen angefahren. Sie war auf der Stelle tot. Ich möchte behaupten, daß ich an der Tatsache, daß sie glücklich gestorben ist, nicht gänzlich unbeteiligt gewesen bin.
Tim Ingold
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