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Haarige ErlebnisseWhen The Saints Go Marching In

■ Aus der erbaulichen Lebensbeichte des Huckelrieder Friseurmeisters Bruno Jablonski – 4. Folge

Heute möchte ich einmal ganz tief in die Mottenkiste der Erinnerungen greifen, um Ihnen zu erzählen, welche Umstände zu meiner Entscheidung, Friseur zu werden, beigetragen haben.

Ich komme gebürtig aus Datteln bei Recklinghausen. Datteln liegt sozusagen – wenn man die Bezeichnung für zwei sich kreuzende Autobahnen auf Flüsse überträgt – im Flusskreuz Lippe/Dortmund-Ems-Kanal. Dort verlebte ich meine Kindheit, eine glückliche übrigens. (Behaupten Sie nie das Gegenteil, und mag es auch noch so wahr sein – Sie bekommen umgehend psychoanalytische Hilfe aufgeschwatzt.)

Jedenfalls gab es in Datteln mehrere Friseure; meine Mutter pflegte jedoch immer den gleichen Salon mit mir aufzusuchen, den Salon Ulrich Brzitwa. Solange ich denken konnte und vermutlich auch solange sie denken konnte – sie war eine echte Dattelnerin – ließ sich unsere gesamte Familie die Haare von Ulrich Brzitwa schneiden. Obwohl niemand den Namen korrekt aussprechen konnte. Und obwohl niemand je so richtig mit Brzitwa zufrieden war. Heute, nach jahrelanger eigener Berufspraxis, verwundert mich die eiserne Treue, mit der die Deutschen ihrem Hausfriseur die Stange halten, nicht weniger. Wie oft habe ich schon um drei oder mehr Ecken erfahren müssen, dass irgendeiner meiner Kunden gänzlich unglücklich mit seiner Frisur beziehungsweise meiner Arbeit war? Wie oft hatte sich genau dieser Kunde überschwänglich und zufrieden lächelnd von mir verabschiedet? Und sie kamen trotzdem wieder. Aber es waren nicht Kundentreue und Krisensicherheit, die meiner jungen Seele den Wunsch, Friseur zu werden, einimpften, sondern vielmehr die Vorbildfunktion Ulrich Brzitwas.

Brzitwa war grundsätzlich volltrunken und lachte laut und dreckig über seine eigenen Witze. Das imponierte mir. Außerdem lief in seinem Salon ständig Musik, meist Big-Band-Arrangements oder irgendeine Nightclub-Musik mit Saxophon und einschläferndem Beat, die freilich so gar nicht zu der kühlen Kachel-athmosphäre eines Frisiersalons passen wollte. Auf die Beifügung des Adjektivs „hygienisch“ habe ich im vorhergehenden Nebensatz bewusst verzichtet. Denn Brzitwa hatte einen Hund, einen Riesenschnauzer namens Erich.

Dem Erich bekam das Herumliegen auf den Kacheln nicht, weshalb er mit einer chronischen Blasenschwäche zu kämpfen hatte. Die Fortbewegung im Salon hatte deshalb mitunter, je nach Alter der von Erich abgesonderten Flüssigkeit, etwas Rutschiges oder Klebriges an sich. Besonders gut kann ich mich an einen Besuch im Winter des Jahres 1949 erinnern. Als ich mit meiner Mutter den Salon betrat, kam Brzitwa mit der Schere in der Hand auf uns zugestürzt, klopfte meiner Mutter auf die Schulter, kniff mich in die Wange und erzählte einen seiner Witze, worauf er sich vor Lachen bog. Dann stürmte er wieder davon und schickte sich an, die Arbeit an einem Kunden zu vollenden. Da jedoch Erich an diesem Tag besonders undicht gewesen war, rutsche Brzitwa aus und rammte seinem Kunden im Fallen die Schere in den Oberschenkel. Der solchermaßen Geschädigte brüllte vor Schmerz wie ein Unteroffizier, sprang auf, riss sich die Schere aus dem Schenkel, stolperte schreiend und lamentierend im Salon umher und trat auf den dort ruhenden Erich.

Aus Notwehr, so nehme ich an, verbiss sich der Erich im gesunden Kundenbein, der Kunde sprang in seiner Verzweiflung samt Erich durch die verglaste Eingangstür, stolperte über eine Schneewehe auf dem Bürgersteig, schlug der Länge nach auf die Straße und wurde dort von den rotierenden Borsten eines herannahenden Schneepflugs erfasst. Die gesamte, kaum zwanzig Sekunden währende Aktion wurde musikalisch von „When The Saints Go Marching In“ untermalt. In diesen zwanzig Sekunden wurde mir schlagartig klar, dass langweilige Berufe wie Kampfpilot oder Löwenbändiger für mich nicht mehr in Frage kamen. Tim Ingold

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