HSV nach dem Sieg gegen Leverkusen: Der Realismus der Traumtänzer
Der HSV versucht einen Spagat, der an Schizophrenie grenzt: Erzsoliden Transfers steht mal wieder ein irres Experiment gegenüber.
Sie haben derart geschickt, robust und kantig verteidigt, dass Bayer Leverkusens Offensive keinen Fuß auf die Erde bekam, egal ob am Anfang mit zwei oder am Ende mit fünf Stürmern auf dem Platz. Und dann macht ausgerechnet Papadopoulos, den der HSV von Bayer Leverkusen ausgeliehen hat, auch noch das, wofür er vor einer Serie von Verletzungen mal berühmt war: Er hält den Schädel in einen Eckstoß, bumm, Tor. Und Sieg.
Der HSV ist und bleibt ein Abstiegskandidat
Diese eine Szene überlagert, dass der HSV immer noch keine Spielidee hat. Dass jede ernst zu nehmende offensive Regung vom Gelingen der Tempodribblings eines Filip Kostić abhängt, oder vom rasanten Konter eines Nikolai Müller. Typen wie Papadopoulos muss man holen als Abstiegskandidat. Und das ist der HSV immer noch.
Das erkannt zu haben, ist eines der Verdienste des neuen Vorstandsvorsitzenden Heribert Bruchhagen und seines noch neueren Sportchefs Jens Todt. Dennoch verkündet Todt 27 Stunden vor Ende der Transferfrist, dass der HSV Walace Souza Silva unter Vertrag genommen hat. Walace ist defensiver Mittelfeldspieler. Das klingt gut, denn der HSV ist auf dieser Position bedürftig. Aber Walace ist 21 Jahre alt. Er hat noch nie außerhalb Brasiliens gelebt. Er kommt mitten in den europäischen Winter. Mitten in den Abstiegskampf in der Bundesliga, einer der anspruchsvollsten Ligen der Welt, was Tempo, Taktik und Physis angeht.
Es gibt nicht mehr viele Bundesligaclubs, die Brasilianer direkt aus Brasilien verpflichten. Die meisten bauen einen Zwischenschritt in einer weniger starken europäischen Liga ein, zur Akklimatisierung. Oder sie planen von vornherein mit einem Zeithorizont von Jahren, bis sie voll auf den neuen Spieler bauen. Es klingt fast einsichtig, wenn Sportchef Todt sagt, Walace könne „nicht über Nacht unsere Probleme lösen“. Wie die Dinge liegen, können sie beim HSV froh sein, wenn er nicht ein neues Problem wird.
Der HSV hat da relativ frische Erfahrung: Gerade haben sie den Brasilianer Cléber Reis, der in Hamburg nie richtig angekommen war, nach Brasilien zurücktransferiert. Noch einschlägiger ist die Personalie Alen Halilović: Das Können des Kroaten war ähnlich hoch gelobt worden wie nun das von Walace. Nun wurde er nach ein paar unglücklichen bis demütigenden Auftritten nach Las Palmas verliehen. Der Club von den Kanaren kann ihn nach Ende des Leihgeschäfts für jene fünf Millionen Euro kaufen, die der HSV vor gerade mal einem halben Jahr an den FC Barcelona überwiesen hatte und die schwer auf seinen Schultern zu lasten schienen. Aber niemand glaubt, dass sie am Ende wirklich zurück nach Hamburg fließen werden. Walace soll nun fast das Doppelte gekostet haben.
Warum holen die Hamburger wieder ein teures Talent?
Warum tut der HSV, den rund 100 Millionen Euro Schulden drücken, so etwas? In der Erwartung, den Klassenerhalt in der Bundesliga ein weiteres Mal irgendwie zu schaffen, könnte man sagen. In der Hoffnung, in der nächsten Saison ein neues, spielerisch besseres Team aufzubauen. Und sich in Walace das eine Supertalent geangelt zu haben, das man nach ein paar Jahren für ein Vielfaches des Kaufpreises weiterveräußern kann.
Die Wahrheit ist einfacher: Der klamme Verein ist für Spielerkäufe, insbesondere solange keine üppigen Transfererlöse erzielt werden, auf seinen Gönner Klaus-Michael Kühne angewiesen. Der fußballverrückte Milliardär und HSV-Anteilseigner hebt oder senkt den Daumen. Und Kühne spendiert nun mal nicht begeistert solide Innenverteidiger. Er möchte sich im Erfolg eines Sensationstransfers sonnen. Walace ist immerhin Brasilianer und Olympiasieger, auch wenn er erst zwei A-Länderspiele gemacht hat. Bei allem Realismus: Ehe der HSV gar keine Spieler verpflichten kann, holt er lieber die von Kühnes Gnaden.
HSV-Trainer Markus Gisdol hat aus dem Fall Halilović gelernt: Er widerstand der Versuchung, den nur noch 46.000 Fans den neuen Hoffnungsträger zu präsentieren und ließ Walace gegen Leverkusen 94 Minuten auf der Bank frieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene