■ H.G. Hollein: Schangsong
Die Frau, mit der ich lebe, hat das französische Liedgut für sich entdeckt. Das klingt harmloser, als es ist. Die Gefährtin kennt nämlich keine Halbheiten, und jeden Morgen zum Rappapapam-pampam von Boris Vians Schlachtertango unter die Dusche zu schleichen, hat nach einer Woche denn doch etwas leicht Abseitiges. Dazu kommt, daß die Gefährtin der Sprache Voltaires nur begrenzt mächtig ist und darum nie so genau weiß, was sie da eigentlich so beseligt mitpfeift. Da bin ich dann gefordert, und es gibt weiß Gott Einfacheres, als Charles „La Mer“ Trenet zu laufender CD simultan zu übersetzen. Aber ich bin ja findig, und mit Herzschmerz, Weltschmerz, Halsschmerz ist das thematische Repertoire des gemeinen französischen Chansonniers schließlich umfassend abgedeckt. Für die Inhaltsangabe genügen mithin ein paar summarische Stichworte à la „Liebe perdu, Jugend perdu, Stimme perdu“. Auf drängendere Nachfragen – das gebe ich zu – greife ich in meiner Not allerdings auch schon mal zu eher freien Interpretationen. Die Gefährtin mutmaßt allerdings in letzter Zeit des öfteren mit einem Anflug von Gekränktheit, ich könne ihr ja viel erzählen. Das sieht sie nicht ganz falsch. Aber es kommt dem Franzosen letztlich doch nur auf den Endreim und eine vokalharmonisch wohltönende Wortfolge an. Warum also nicht „Ecoutez la cloche, le mariage est proche“ mit „Bin kein junger Spund, blick allem auf den Grund“ übersetzen? Auf eine gewisse Skepsis stößt bei der Gefährtin auch meine Subsumierung des sozio-historischen Überbaus linksrheinischer Barden von Brel bis Brassens: „Bin ein armer Straßenmusikant, zieh' ausgestoßen durch das Land, hasse alle Bürger und werd' darob zum Würger“ scheint ihr analytisch offenbar denn doch ein wenig zu kurz gegriffen. Seit ein paar Tagen liegt nun neben dem CD-Player ein französisch-deutsches Wörterbuch, und nach jedem Blättern blickt mich die Gefährtin lange schweigend an.
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