HAUPTSTADT GANZ NACKT: Mutter aller Memoranden
■ Montagsexperten kommen zu Wort
Die hinter uns liegende Hauptstadtwoche hat der Metropolendiskussion neue Dimensionen eröffnet. R.von Weizsäcker verfaßte ein »bemerkenswertes« ('Der Spiegel‘) »Memorandum zur Hauptstadt«. Weizsäcker, von seiner fürbittenden Leitartikler-Gemeinde auch gern »Grandsigneur der deutschen Politik« oder »Mann von Ansehen« genannt, konnte auch diesmal sachgemäße Aussagen zum Thema plazieren. »Erfahrungsgemäß verlaufen Hauptstadtdebatten außerordentlich kontrovers« — so der Grandsigneur der deutschen Platitüde, der aber noch außerordentlicher zu schlußfolgern versteht: »Politische Führung wird dadurch (durch Hauptstadtdebatten nämlich) nicht leichter.« Auch wenn es nicht leicht fällt, besteht der Mann von Aussage darauf, »daß im Bewußtsein der großen politischen Herausforderungen entschieden wird, vor denen wir stehen«. Wir stehen aber nicht nur vor großen Herausforderungen, sondern vor ebenso großen Fragen. Gewissensführer v. Weizsäcker benennt sie: »Wie sieht die politische Landkarte Europas in 20 Jahren aus? Welche verantwortliche Rolle fällt dem vereinigten Deutschland dafür zu? Hat dies Auswirkungen auf die Hauptstadt?« Vor allem aber: Wird die politische Führung dadurch leichter? Und verlaufen Europadebatten ebenso kontrovers wie Hauptstadtdebatten?
Aber bleiben wir noch einen Moment bei der europäischen Landkarte, die dem entnazifizierten Wehrmachtsoffizier besonders am Herzen liegt: »Nicht Deutschland wird durch die Vereinigung ‘östlicher'; Deutschland war auch zuvor dasselbe Land, nur geteilt.« Deutschland war, ist und bleibt Deutschland. Soweit, so deutsch. Aber was, um Himmels willen, ist mit Europa? »Europa dagegen rückt in die Mitte des Kontinents.« Was das für Deutschland bedeutet, verschweigt der Landkartenvermesser allerdings. Rückt es mit, oder bleibt es stehen und gerät an den Rand, der vielleicht gar nicht mehr europäisch ist? Klarheit hingegen über den geographischen Rest: »Und auch der Norden, wie schon vorher der Süden, wird dazugehören.« Europa behält also weiterhin einen Norden und Süden. Aber nicht nur das. R. von Weizsäcker weiß noch mehr über die vor uns liegenden 20 Jahre: »Die Skandinavier werden im europäischen Wirtschaftsraum wie früher wieder direkte Wege nach Süden suchen.« Solange die Skandinavier ganz hoch im Norden wohnen, wird ihnen auch nichts anderes übrigbleiben, als Europa im Süden zu suchen. Die Skandinavier werden es also leicht haben. Andere werden es schwer haben: »Nicht nur Sachsen und Mecklenburg, sondern auch Brüssel braucht Berlin als Drehscheibe.« Hier drohen nicht nur schwindelerregende Turbulenzen, sondern auch außerordnetlich kreiselnde Drehscheibendebatten. Gewißheit dafür gibt es bezüglich Preußen: »Preußen wird es nicht wieder geben.«
Nachdem Herrenreiter v. Weizsäcker sein Steckenpferd »Erdkunde« ausgiebig vorgeführt hat, wendet er sich abschließend der Hauptstadt zu: »Ich glaube freilich, daß man eine Stadt nur Hauptstadt nennen kann, wenn wenigstens zwei Verfassungsorgane dort residieren und arbeiten.« Und das ergibt mal wirklich einen »bemerkenswerten« ('Der Spiegel‘) Merksatz: 2 Verfassungsorgane machen eine Hauptstadt. Mit diesem Memorandum aller Memoranden könnte Weizsäcker Berlin zur Mutter aller Metropolen machen. Enno Bohlmann
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