HAMBURG – GIER UND FOLKLORE : Die Ware Stadt
Ein Grundsatz moderner Metropolenbewohner lautet: Man darf die Stadt, in der man lebt, nicht mögen.
Ich mag also Hamburg nicht. Das liegt nicht an seiner Lage und weder an seinem Stadtbild noch am Wetter – das liegt vielmehr an seiner unsäglichen Welt- und Kaufmannsfolklore, am Gehabe dieser Gesinnungs- und Überzeugungshansestädter, die Hamburg fest im Griff haben und die Stadt mit der Behauptung maritimen Flairs vermarkten. Man überzeuge sich selbst: Die Tatsache, dass Hamburg bei der Fußballweltmeisterschaft als größte deutsche Stadt im Westen nicht übergangen werden konnte, wird auf einem Plakat mit dem Bild vom Schlepperballett an den Landungsbrücken gefeiert.
Schon im Vorfeld verbinden sich zwei Markenartikel auf das Innigste: die FIFA WM 2006[TM]und das gediegene Hanseatentum®. Der merkantile Trieb des offiziellen Hamburg lechzt nach dem Großen, Herausragenden, ihm ist alles Gute und Schöne nur eines: Ware. Die Stadt, ihre Geschichte, ihre Gegenwart. Merkwürdig, dass noch niemand in Rathaus und Handelskammer darauf gekommen ist, von allen Besuchern im kommenden Juni an der Stadtgrenze Eintritt zu verlangen. Eintrittsgeld kann man nur im Stadion verlangen. Aber wer hat schon Karten!?
Diejenigen ohne werden mit einem infamen Angebot nach Hamburg gelockt. Sie nennen es allen Ernstes „Public Viewing“. Gemeint ist das gemeinschaftliche Betrachten einer Großbildleinwand. In Hamburg muss es aber ein bisschen mehr sein: Ein „Fan-Stadion“ für 50.000 Menschen und ein angeschlossener „Fan-Park“, in dem sie abgefüllt werden. Dazu sollen sich die Massen auf einem der garstigsten Plätze versammeln, die die Stadt zu bieten hat. Seine wahre Natur verbergend heißt er „Heiligengeistfeld“, ganz in der Nähe der Reeperbahn, und ist auch sonst Ort von Surrogat-Veranstaltungen für die niederen Stände, von Jahrmarkt und Zirkus, Kuriositätenschau und Eisbahn. Außerdem dient er den FC-St.-Pauli-Gängern als Kotz-Revier. Dort wird man das kartenlose Fußballvolk in Quarantäne halten. Und vorsichtshalber mit Polizei umstellen. Erinnern Sie sich an den „Hamburger Kessel“ von 1986? Diese illegale Polizeiaktion gegen Brokdorf-Demonstranten machte das Heiligengeistfeld über das Verbreitungsgebiet von Astra-Bier hinaus bekannt.
Siegfried Lenz haben wir die Erkenntnis zu verdanken, das Hamburgische sei die Kunst, die Welt am Lieferanteneingang zu empfangen und ihr das Gefühl zu geben, dies sei die größte Auszeichnung, die man zu vergeben hat. Könnte man, selbst wenn man wollte, diese Stadt mögen? MICHAEL BERGER
Der Autor ist Seite-drei-Chef der Lübecker Nachrichten