Gute Nachrichten (4): „Wir zeigen, dass nicht alles in die falsche Richtung geht“
Max Roser hat das Projekt „Our World in Data“ mitgegründet. Es zeigt, dass oft unglaubliche Verbesserungen erreicht wurden. Das hilft sogar Psychologen.
Die schlechten Nachrichten in diesem Jahr häuften sich. Optimismus, so hieß es lange gern im Scherz, sei nur ein Mangel an Information. Mit Blick auf das Klima etwa halten vielen das heute für geradezu unbestreitbar. Die Zukunft erscheint vielen bedrohlich, manche erwarten gar den Kollaps. Doch es gibt Menschen, bei denen ist es umgekehrt: Sie weisen auf empirische Entwicklungen hin, die trotz allem menschlichen Fortschritt zeigen und Gründe zur Zuversicht geben. In einem Text für die Wochentaz hat taz-Redakteur Christian Jakob beschrieben, was sie dem oft fatalistischen Zeitgeist entgegenhalten. Für diese Interviewreihe haben wir ausführlich mit ihnen darüber gesprochen, ob der bisherige menschliche Fortschritt auch all die neuen Krisen übersteht.
taz: Herr Roser, die schlechten Nachrichten ballen sich bisweilen so, dass manche Menschen heute denken, die Welt der Zukunft sei kein lebenswerter Ort. Können Sie das nachvollziehen?
Max Roser: Ich will es nicht abtun, dass manche Menschen so denken. Und es hängt natürlich immer davon ab, was der Einzelne für lebenswert erachtet. Wenn ich selbst auf unsere Geschichte, unsere Entwicklung und die gegenwärtige Lage schaue, glaube ich nicht, dass alles bestens ist. Aber wir haben gegen alle Erwartungen und gegen riesige Widerstände oft fundamentale, unglaubliche Verbesserungen erreicht. Das ist die Perspektive, die mir hilft, nach vorn zu schauen, warum ich eine Familie haben möchte und warum ich versuche, meinen Beitrag zu leisten. Man darf nicht vergessen: Die Menschen in der Vergangenheit waren oft in viel schlechterenSituationen als wir.
taz: Vielen erscheint die Vergangenheit angesichts der heutigen Krisenballung als eine vergleichsweise einfache Zeit.
An der Universität Oxford hat der deutsche Ökonom Max Roser ein Informationsportal namens „Our World in Data“ aufgebaut. Die Redaktion zeigt mit Grafiken, welche Probleme die Menschheit wirklich hat und wie sie beim Kampf gegen diese vorankommt. Rosers Kollegin Hannah Ritchie hat auf Grundlage dieser Daten gerade ein Buch mit dem Titel „Hoffnung für Verzweifelte“ geschrieben.
Als der aus Rheinland-Pfalz stammende Roser das Portal 2013 gründete, war er 30 Jahre alt. Heute hat er in Oxford eine Professur für Globale Entwicklung, wurde vom UN-Generalsekretär Antonio Guterres eingeladen und berät die UN in Statistikfragen. Bill Gates nannte Roser „einen seiner Lieblingsökonomen“. 2016 schrieb der Spiegel: „Die Berechnungen eines Ökonomen zeigen: Alles wird gut.“ Das will Roser so nicht stehenlassen. Eine „Gute Nachrichten“-Seite betreibe er nicht, sagt er.
Roser: Das ist schon ein gewisser Perspektivverlust. In der Vergangenheit ist jedes zweite Kind gestorben, bevor es das Ende der Pubertät erreicht hat. Ich weiß nicht, wie die Menschen das damals emotional gemacht haben. Aber sie haben es gemacht und sie haben das Leben trotzdem irgendwie lebenswert gefunden.
taz: Es heißt, in ihrem Projekt „Our World in Data“ zeige sich der Fortschritt in der Welt. Ist das so?
Roser: Wir unterscheiden uns von den Nachrichten dahingehend, dass wir nicht nur die negativen Dinge berichten. Das ist einer von den grundlegenden Fehlern der Medien: Nachrichten sind immer nur schlechte Nachrichten. Als „Good News Aggregator“ sehe ich mich und unsere Arbeit aber gar nicht. Die machen den gleichen Fehler wie die anderen Medien, nur umgekehrt. Ich will auch keine Zeitung lesen, die mir die ganze Zeit gute, schöne Geschichten erzählt. Was wir in den Nachrichten hören, sind die außergewöhnlichen Sachen, die in den letzten 24 Stunden passiert sind. Oft sind die gewöhnlichen Sachen aber sehr viel wichtiger. Und die finden in den Nachrichten kaum eine Berücksichtigung.
taz: Zum Beispiel?
Roser: Jeden Tag sterben 16.000 Kinder. An keinem Tag ist das außergewöhnlich. Und deshalb findet es in den Nachrichten keine Aufmerksamkeit. Das ist ein grundlegender Fehler. Unsere Frage ist: Wie verändert sich die Welt und was können wir tun, um Fortschritt zu erreichen?
taz: Was kann man denn zum Beispiel tun?
Roser: Beim Hunger waren die Leute vor fünf, sechs Jahrzehnten unglaublich pessimistisch. Bücher aus den 1960er und 70er Jahren, etwa „Die Grenzen des Wachstums“ oder „Die Bevölkerungsbombe“ von Paul Ehrlich, waren komplett fatalistisch. Der erste Satz von Ehrlichs Buch ist: „The Battle to feed all of humanity is over.“ Punkt. Da war keine Hoffnung mehr. Das einzige, was noch zu erwarten war, waren Hungersnöte. Es gibt einen anderen Bestseller aus dieser Zeit, von den Paddock-Brüdern. Die waren der Meinung, für Länder wie Indien, Haiti, Ägypten sei die Lage komplett hoffnungslos. ‚Denen geben wir keine Unterstützung‘, das sei sonst ‚wie Sand ins Meer kippen‘, das war die Metapher. Man glaubte, in den 70er und 80er Jahren werde es gigantische Hungersnöte geben. Paul Ehrlich dachte, dass sogar Großbritannien im Jahr 2000 nicht mehr lebensfähig ist und nicht mehr existiert.
taz: Wie verbreitet war diese Sichtweise damals?
Roser: Das war die Standardmeinung. Viele Leute haben das damals geglaubt und deshalb keine Kinder gehabt, haben die Hoffnung aufgegeben. Aber zum Glück haben andere trotzdem versucht, die Ernährungssituation auf der Erde zu verbessern. Und sie haben das erreicht. Wir haben seit diese Bücher erschienen sind viel weniger Hungersnöte als in den Jahrzehnten zuvor. Die Nahrungsversorgung pro Kopf ist in allen Weltregionen auf der Welt gestiegen, nicht gefallen – bei gleichzeitigem gigantischem Bevölkerungswachstum. Fünf Milliarden Menschen kamen dazu, und dennoch hat sich die Ernährung verbessert. Der Fatalismus dieser Bücher war falsch. Das sollte uns eine Lehre sein für unsere eigene Zeit: Dass wir den Fatalisten, die es auch heute gibt, nicht leichtfertig glauben, sondern stattdessen die Probleme ernst nehmen, und versuchen Lösungen zu finden.
taz: Vermissen Sie heute die Bereitschaft dazu?
Roser: Gegen einige der großen Probleme haben sich die Anstrengungen gelohnt. Die Kinder, die heute geboren werden, sind gesünder und haben eine sehr viel bessere Erwartung zu überleben. Es gab niemals in der Weltgeschichte eine Zeit, in der der Anteil von Menschen in Armut schneller zurückgegangen ist als in unserer Lebenszeit. Es ist paradoxerweise so, dass man die Probleme unterschätzt, aber gleichzeitig den Fortschritt gegen diese Probleme nicht sieht. Wenn man Leute befragt, wie die Kindersterblichkeit auf der Welt sich verändert, dann sagen mehr als die Hälfte, dass sie entweder stagniert oder steigt. Bei der Frage nach globaler Armut glauben noch mehr Menschen, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten zunahm.
taz: Woher kommt diese Fehleinschätzung?
Roser: Die Psychologie hat sehr oft das Phänomen nachgewiesen, das auf Englisch ‚Negativity Bias‘ heißt: Vor 100.000 Jahren war es extrem wichtig, viel mehr Aufmerksamkeit auf Gefahren als auf Chancen zu legen. Wer den Säbelzahntiger im Gebüsch überhörte, hatte einen viel größeren Schaden als der, der ein paar Beeren am Wegesrand übersehen hat. Deshalb richten wir sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf Bedrohungen. Unser kognitives Erbe ist nicht gut für das Medienumfeld im 21. Jahrhundert ausgestattet. Heute wird die ganze Zeit von Bedrohungen und Katastrophen berichtet. Unser Instinkt ist, dem viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wir selbst müssen uns klar machen, wie viel Aufmerksamkeit wir solchen negativen Ereignissen schenken, uns bewusst machen, wie unser Geist und die Medien funktionieren.
taz: Ist dieser negative Bias einer der Gründe, warum sich Medien dafür entscheiden, etwa zur US-Wahl ein halbes Jahr lang nonstop in Dauerschleife zu berichten und andere Themen zu ignorieren?
Roser: Es ist immer schwierig zu sagen, dieses Problem sei weniger wichtig als ein anderes. Aber letztlich ist unsere Aufmerksamkeit begrenzt. Die Wahl des US Präsidenten ist wichtig. Aber ich habe auch zu viel Zeit damit verbracht, mir über Details im US-Wahlsystem Gedanken zu machen. Letztlich habe ich die Aufmerksamkeit dann oft aufs Falsche gelegt. Ein gut funktionierendes Mediensystem würde solchen Dingen weniger Aufmerksamkeit widmen.
taz: Welche Hauptursachen haben die vielen Fortschritte in der menschlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte?
Roser: Die wirklich großen Innovationen, sind Früchte der Forschung. Bei der Kindersterblichkeit haben unter anderem Impfungen wesentliche Fortschritte gebracht. Nahrungsergänzungsmittel haben Mangelernährung reduziert. Wirtschaftswachstum hat die meisten Länder reicher gemacht. Technologische Innovationen ermöglichte, effizienter und damit mehr und in höherer Qualität zu produzieren. Politischer Fortschritt war wichtig, gerade im Kontext von Hunger. Große Hungersnöte wie in den 50er, 60er, 70er Jahren – die allergrößte von 1958 bis 1961 unter Mao in China, aber auch eine ganze Reihe von großen Hungersnöten in Afrika – die gibt es in der Form nicht mehr.
Das ist auch eine Folge von politischen Regimen, die das Wohl ihrer Bürger ein bisschen mehr im Auge haben als in der Vergangenheit. Das ist die große Forschungserkenntnis von Amartya Sen: In Demokratien treten keine Hungersnöte auf. Die sind in modernen Zeiten nicht mehr so sehr ein Problem der Verfügbarkeit von Nahrung, sondern ein Verteilungsproblem. Wenn es in den letzten Jahrzehnten zu Nahrungsknappheiten kam, konnten politische Regime, denen das Wohl der Bürger etwas am Herzen lag, Nahrungsmittel verfügbar zu machen und so die schlimmsten Katastrophen zu verhindern. Heute gibt es mehr Bürgerrechte, mehr Demokratie. Natürlich gibt es noch immer schwere Hungersnöte, zum Beispiel in Nordkorea, in Teilen von Afrika ist die Lage auch jetzt extrem besorgniserregend. Aber politischer Fortschritt war ein großer Grund dafür, dass das Problem ein Stück weit bekämpft werden konnte.
taz: Nun erstarkt der Autoritarismus, Bürgerrechte und Demokratie geraten unter Druck. Welche Folgen wird das haben?
Roser: Ich denke, das ist uns Deutschen sehr klar, wie schnell eine Entwicklung, die positiv verläuft, sich umkehren und extrem negativ werden kann. Diese Sorge habe ich auch.
taz: Hinzu kommt die Ökologie. Das bisherige Wachstumsmodell ist offenkundig am Ende. Was heißt das für den Kampf gegen Armut oder für die globale Gesundheit?
Roser: Es heißt, dass der Kampf gegen Armut kann nicht mehr so funktionieren kann, wie er über die letzten 200 Jahre funktioniert hat. Die fossilen Energien haben uns aus der Armut gebracht. Aber es ist nicht möglich, 8 Milliarden Menschen mit fossilen Energien bei einem hohen Lebensstandard zu versorgen, ohne dass das ökologisch eine Katastrophe wäre. Darum ist die Verantwortung für reiche Länder wie Deutschland so groß, Innovationen zu fördern, die es möglich machen, uns wirklich von den fossilen Energien wegzubewegen. Es war gut, die Solar- und Windenergie zu fördern, als die noch relativ am Anfang standen. Das hat dazu beizutragen, dass diese Technologien sich weiterentwickeln und im Preis fallen konnten. Viele Länder können deshalb heute auf die günstigere Solar- und Windenergie umstellen. Deutschland hat einen Beitrag dazu geleistet. Das war ein großer Gewinn im Kampf gegen Armut, ohne dass wir die Umwelt noch mehr zerstören.
taz: Viele der genannten Fortschritte hängen eng mit dem Multilateralismus, mit internationaler Kooperation zusammen. Auch um die steht es schlecht – Populist:innen wollen diese so nicht mehr. Welche Folgen hat das?
Roser: In vielerlei Hinsicht wäre es positiver, wenn Länder weiter zusammenarbeiten würden. Sonst wird es schwieriger für uns alle. Aber es ist vielleicht auch hilfreich zu sehen, dass das nicht das Ende ist. Eine der größten Errungenschaften überhaupt war die Ausrottung der Pocken, eine der elendsten Infektionskrankheiten der Menschheitsgeschichte. In den letzten 100 Jahren vor der Ausrottung im Jahr 1978 tötete sie eine halbe Milliarde Menschen. Weit mehr Infizierten überlebten vernarbt, ausgestoßen, teils erblindet. Eine globale Impfkampagne rottete sie aus, funktioniert hat das nur durch internationale Zusammenarbeit – und zwar zum Höhepunkt des Kalten Krieges.
taz: Als es also gar nicht einfach mit der internationalen Zusammenarbeit war.
Roser: Genau. Natürlich wäre es mir lieber, wenn wir die großen Probleme gemeinsamer lösen können. Wir sind schwächer, wenn wir die internationale Zusammenarbeit aufkündigen. Aber es ist eben auch möglich, unter schwierigen politischen Umständen große Erfolge zu haben.
taz: Oft heißt es, Daten seien nicht geeignet, Menschen ein Bild von der Welt zu vermitteln. Überzeugungen würden sich in viel stärkerem Maße aus emotionalen Faktoren speisen. Wie sinnvoll ist es da, mit Tabellen und Grafiken das Weltbild verändern zu wollen?
Roser: Jeder von uns kennt durchschnittlich nur ungefähr 800 Menschen. Was wir persönlich von anderen erfahren ist daher sehr begrenzt. Fast alles, was man über die Welt weiß, weiß man aus Medien. Und deshalb ist es extrem wichtig, sich zu überlegen, welchen Medien man Aufmerksamkeit schenkt. Filme, Dokumentationen, Reportagen in der Zeitung haben Vorteile. Aber letztlich sind es Daten, die einem den Überblick geben, wie sich die Menschheit entwickelt.
taz: Ist der Blick auf die Empirie, wie Our World in Data sie bietet, für Sie selbst weniger frustrierend, vielleicht sogar emotional entlastend im Vergleich zum Konsum von Nachrichten?
Roser: Manchmal finde ich meine Arbeit schwieriger. Zu verstehen, was diese Statistiken aussagen, trifft mich oft hart. Zu sehen, dass 735 Millionen Menschen auf der Welt Hunger haben, ist einfach elend zu sehen.
taz: Kann das Wissen, dass der Anteil der Hungernden sehr weit zurück gegangen ist, über dieses elende Gefühl hinweg helfen?
Roser: Ja und nein. Es freut mich, ich bin stolz auf das, was die Menschheit erreicht hat, finde es ermutigend, dass wir den Hunger auf der Welt reduzieren konnten. Auf der anderen Seite ist es einfach trotzdem elend. Es heißt manchmal, Daten würden Menschen nicht emotional erreichen. Aber was ich nie erwartet hätte, was jetzt aber häufig passiert ist, dass uns Psychologen schreiben. Sie verwenden unsere Daten in ihrer Arbeit mit Patienten, die an Depressionen leiden.
taz: Warum?
Roser: Sie haben Patienten, die überwältigt sind von der Nachrichtenlage und dem Gefühl, dass alles schiefgeht, dass die Welt sich immer nur in die falsche Richtung entwickelt. Und zeigen sie denen unsere Grafiken, damit sie sehen, dass eben nicht alles nur in die falsche Richtung geht. Ich finde das großartig. Ich hätte es niemals gedacht.Aber die Therapeuten sind die Experten für Emotionen. Und sie denken, dass unsere Arbeit in guter Weg ist ihren Patienten emotional zu helfen.
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