piwik no script img

Gutachter über Sicherungsverwahrte"Langsam auf die Freiheit vorbereiten"

Sicherungsverwahrte sollten in therapeutische Einrichtungen kommen, fordert Gutachter Werner Platz. Ein Konzept gibt es, was fehlt, sind Geld und politischer Wille.

"Bei Sicherungsverwahrten wäre eine Sozialtherapie angezeigt." Bild: ap
Interview von Plutonia Plarre

taz: Herr Platz, Sie sind seit 25 Jahren psychiatrischer Sachverständiger in Strafprozessen. Wie viele sind aufgrund Ihrer Empfehlung zu Sicherungsverwahrung verurteilt worden?

Werner Platz: Ich würde sagen, es waren zehn Angeklagte - von mehreren hundert Gutachteraufträgen mit dieser Fragestellung.

Können Sie sich noch an den letzten Fall erinnern?

Das war vor zwei Jahren. Es handelt sich um einen Mann Mitte 20. Er hatte in Berlin schweren sexuellen Missbrauch von Kinder betrieben. Die letzte Tat hatte er aus der Haft heraus begangen.

Wie kam es dazu?

Er hatte Freigang, verschleppte ein zehnjähriges Mädchen in einen Keller und vergewaltigte es brutal. Stets war es Zufall, wer sein Opfer wurde. Er sah ein Mädchen, in seinem Kopf machte es klick, und er folgte ihm.

Bild: privat
Im Interview: 

Werner Platz, 69, Arzt für Psychiatrie, Neurologie und forensische Psychiatrie, leitet die Psychiatrische Institutsambulanz am Vivantes Klinikum Berlin.

Aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sollen bundesweit 122 Sicherungsverwahrte freikommen, 9 in Berlin. Die Bevölkerung reagiert panisch. Sind diese Menschen wirklich so gefährlich, wie Medien suggerieren?

Pauschal lässt sich das nicht beantworten. Ich kenne die meisten Betroffenen nicht. Was man aber sagen kann: Die Leute, die jetzt rauskommen sollen, haben zum Teil 20, 30 Jahre hinter Gittern gesessen, ohne dass dort in sozialtherapeutischer Hinsicht etwas mit ihnen passiert wäre. Sie haben schwere Hospitalismusschäden, weil sie einfach nur verwahrt wurden. Das verunsichert die Bevölkerung zu Recht. Dass die Presse die Dinge anspricht, ist ihre Aufgabe.

Was meinen Sie mit Hospitalismusschäden?

Wenn man wegen einer körperlichen Erkrankung ins Krankenhaus kommt, sinkt der IQ nach vier Wochen. Man fängt an, sich zu vernachlässigen, indem man sich zum Bespiel nicht mehr rasiert oder richtig anzieht. Das muss man sich mal über 10, 20 Jahre hinweg vorstellen. Diese Menschen haben sich praktisch aufgegeben. Sie sind antriebsarm, kennen sich in den praktischen Dingen des täglichen Leben nicht mehr aus. Sie sind nicht interaktionsfähig, geschweige denn, dass sie in der Lage sind, ihr Handeln zu reflektieren. Wie solche Menschen auf die Entlassung reagieren, wenn sie plötzlich allein auf sich gestellt sind, ist schwer kalkulierbar.

Ist das ein Plädoyer, diese Leute nicht rauszulassen?

Nein. Aber man muss versuchen das nachzuholen, was man vorher versäumt hat.

Wie könnte das aussehen?

Diese Menschen müssen kontrolliert geschützt in sozialtherapeutischen Einrichtungen untergebracht werden. Sozialtherapeuten könnten sie dort unter ärztlicher Anleitung Stück für Stück auf die Freiheit vorbereiten. Das fängt bei begleiteten Ausgängen an, dann lässt man sie stundenweise allein gehen. So geht es Stück für Stück weiter. Man muss Erfahrungen sammeln, welche Zeiträume das braucht. Es gibt noch keine systematischen Untersuchungen.

Will das nicht die Bundesregierung? Sie will eine neue Form von Unterbringung für psychisch gestörte Gewalttäter, um die Freilassung der Sicherungsverwahrten zu umgehen.

Das Problem ist, dass in der politischen Diskussion mit völlig falschen Begriffen operiert wird.

Was meinen Sie?

Die in Rede stehende Gruppe der Sicherungsverwahrten wird als "psychisch gestörte Täter" bezeichnet. Die Menschen, um die es geht, sind aber nicht psychisch gestört. Wären sie es, hätte man sie wegen Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch in ein psychiatrisches Krankenhaus des Maßregelvollzugs einweisen müssen. Sie sind aber nach Paragraf 66 in Sicherungsverwahrung untergebracht worden.

Psychisch gestört und psychisch krank ist das Gleiche?

Richtig. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation sind psychische Störung und psychische Krankheit gleichbedeutend. Man spricht aber von Störung, um die Menschen nicht zu diskriminieren.

Wollen Sie damit sagen, dass Menschen nicht gestört sind, die wegen schwerster Sexualstraftaten Sicherungsverwahrung bekommen haben?

Nein. Aber diese Menschen leiden in der Regel an Verhaltens- oder Persönlichkeitsstörungen. Deshalb wäre bei ihnen eine Sozialtherapie angezeigt.

Klingt ganz schön verwirrend.

Eigentlich ist es einfach. In der Aufregung über das EGMR-Urteil wird übersehen, dass es schon lange Konzepte für eine Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt gibt. Sie sind nur in Vergessenheit geraten.

Bitte klären Sie uns auf.

Der Nestor der forensischen Psychiatrie in der alten Bundesrepublik, Wilfried Rasch …

der das Forensische Institut der FU Berlin bis 1993 leitete …

… hat maßgeblich dafür gesorgt, dass die Sozialtherapie im Paragraf 65 Strafgesetzbuch verankert wurde. Der Paragraf hat aber nie Gesetzeskraft erlangt. Das Vorhaben ist stecken geblieben. Statt einer externen sozialtherapeutischen Einrichtung gibt es Sozialtherapie nur innerhalb der Haftanstalten. Die Plätze sind sehr begrenzt. Für den großen Wurf fehlten das Geld und der politische Wille.

Sie haben bei Rasch habilitiert. Für welche Schule stand er?

Er stand für eine menschliche Schule der forensischen Psychiatrie. Er war der Vertreter eines sozialtherapeutischen Ansatzes, der darauf abzielt, dass Straftäter soziale Verhaltensnormen lernen und wieder in die Gesellschaft integriert werden müssen.

Wie könnten die Länder konkret das Problem lösen, das sich aus dem EGMR-Urteil ergibt?

Das Problem ließe sich ganz schnell und pragmatisch lösen. Man könnte die sozialtherapeutischen Einrichtungen räumlich an den bestehenden Maßregelvollzug angliedern, in dem man zum Bespiel eine halbe Station dafür abtrennt oder ein Haus auf dem Klinikgelände des Maßregelvollzugs freimacht. Auch therapeutisch müsste man das Ganze mit einer eigenen ärztlichen Leitung und dem entsprechendem Behandlungs- und Hilfsangebot trennen. Der Rahmen für die Betroffenen wäre überschaubar. Sie hätten konstante Betreuer. Die Gesellschaft wäre vor ihnen geschützt, sie aber auch umgekehrt vor Anfeindungen einer aufgebrachten Nachbarschaft. Auch von der Presse könnten sie nicht mehr behelligt werden, weil sie auf dem Klinikgelände Patientenschutzrechte genießen.

Wäre das auch eine Lösung für Straftäter, die aufgrund des Urteils schon frei sind?

Selbstverständlich. Einige der Leute sind von den Haftanstalten von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt worden. Das kommt dem Aussetzen hilfloser Personen gleich. Seither werden sie rund um die Uhr von der Polizei überwacht. So ein Personalaufwand ist für die Polizei, bei den vielen, die noch rauskommen, auf Dauer gar nicht leistbar.

Ihr Modell wäre für die Betroffenen ein neuerlicher Freiheitsentzug, zudem gesetzeswidrig. Laut EGMR-Urteil haben sie Anspruch freizukommen.

Die Betoffenen müssten zustimmen. Ich schätze, sie täten es. Sie hätten doch eine Perspektive rauszukommen. Und sie wissen, dass sie bei einer Ad-hoc-Entlassung nicht zur Ruhe kommen würden. Einige kenne ich von meiner Gutachtertätigkeit. Einer hat ganz klar gesagt, ich bin nicht psychisch krank, ich will keine Psychiatrie, aber Sozialhilfe würde ich machen.

Könnte die Sicherungsverwahrung durch Schaffung von sozialtherapeutische Einrichtungen obsolet werden?

Denkbar wäre es, dass statt Sicherungsverwahrung der Paragraf 65 kommt. Dass setzt aber die gesellschaftliche Einsicht voraus, dass den Menschen im Sinne der Resozialisierung eher geholfen wird. Und dass damit auch die Sicherheit der Allgemeinheit eher gewährleistet ist als durch die Sicherungsverwahrung. Denn eines weiß man ja längst: Sexualstraftäter, die behandelt worden sind, haben eine deutlich geringere Rückfallrate als diejenigen, die nicht behandelt worden sind.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!