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Gunst im Schwinden

■ Buhrufe für den Präsidenten auf dem Roten Platz

Über kurz oder lang waren sie zu erwarten gewesen, die Unmutsbekundungen der Menge gegenüber Michail Gorbatschow. Sein Heiligenschein glänzte in den letzten Monaten nur noch im Westen. Hier hielt sich das Dogma seiner Unfehlbarkeit, die ihn vor jeder Kritik feite. In der Sowjetunion hat sich dieses Bild des Pantokrators schon lange gewandelt. Seine politischen Entscheidungen wollen viele nicht mehr nach- und mitvollziehen. Litauen, die Besetzung seines Präsidialrates, die Korruptionsaffäre, die mit dem Namen Ligatschow verbunden ist, und nicht zuletzt der offene Brief des ZKs der KPdSU, der die Radikalen aus der Partei treiben soll indirekt eine Hinwendung zu den Konservativen.

Zugegeben, daß es überhaupt möglich wurde, bei einer Maikundgebung den Präsidenten auszupfeifen, ist fast allein sein persönliches Verdienst. Doch nun wird Gorbatschow selbst zum Gegenstand der Kritik, und das mag er überhaupt nicht. Beweise hierfür liefert er beinahe in jeder Sitzung des Obersten Sowjets, in der er Kritiker häufig auf rüdeste Weise abkanzelt. Allerdings mißt er hierbei mit zweierlei Maß. Seinen konservativen Widersachern begegnet er meist mit sehr viel Zurückhaltung, spontane emotionale Ausbrüche leistet er sich nur gegenüber Radikalen.

Jetzt stünde es dem Präsidenten gut an, entscheidende neue Akzente zu setzen. Die Partei steht vor der Spaltung, und am Horizont taucht ein Mehrparteiensystem auf. Wenn er weiterhin die führende Rolle als Reformer innehaben möchte, müßte er auch in diese Richtung voranschreiten. Statt dessen stärkt er in letzter Zeit nur noch die Konservativen in der Partei, die trotz Glasnost noch nichts dazugelernt haben. Kommt es zu einer Spaltung der KPdSU wird er nicht mehr auf die Gunst jener Kräfte bauen können, um die er jetzt wieder buhlt. Denn die Konservativen werden ihm die Demütigung, die Bankrotterklärung ihrer alten Politik, nicht verzeihen, und solche Kader bekämen Aufwind, die schon heute für eine düstere Zukunft stehen. Deren Ideologie ist russisch -fundamentalistisch mit schon heute deutlichen antisemitischen Einsprengseln. Sogar eine Koalition mit der stockkonservativen russisch-orthodoxen Kirche wäre dann denkbar. Verhilft Gorbatschow solchen Kräften zur Macht, wäre das das Ende des Experiments. Und Rußland drohte wieder in Isolation zu verfallen.

Klaus-Helge Donath

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