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GuatemalaIn der Kammer des Schreckens

Noch werden die Akten des Geheimarchivs der guatemaltekischen Polizei gesäubert, geordnet und aufbereitet - zumindest bis zu den Wahlen am Sonntag.

"Wenn Pérez Molina gewinnt, werden wir alle dieses Haus verlassen müssen": Wahlkämpfer Molina Bild: ap

Wer in Guatemala jemals in Berührung mit der Bürokratie gekommen ist, weiß, dass hier viel Papier produziert wird. Für alles und jedes werden Akten erstellt, Formulare ausgefüllt, Fingerabdrücke genommen, Passbilder aufgeklebt. Auch das gesamte Rechtssystem des Landes ist auf Papier aufgebaut. Selbst in Gerichtsverfahren kennt man die mündliche Verhandlung erst seit kurzem. Bisher haben Polizei, Staatsanwälte, Verteidiger und Richter nur Papierberge hin und her geschoben, um zu einem Urteil zu kommen. Man fragt sich, was mit all diesen Akten passiert, und stellt sich ein einsames großes Haus vor, in dem bis unters Dach all diese Unterlagen gestapelt sind.

Genau so sieht das Archiv der Nationalpolizei von Guatemala aus. Es ist ein Haus, das Anfang der Achtzigerjahre als Krankenhaus konzipiert, aber nie fertig gebaut wurde. Ein Zweigeschosser aus Beton in der heruntergekommenen Zone 6. Nie hat sich jemand um das Gebäude gekümmert, im Lauf der Jahre ist das Dach undicht geworden, die wenigen freiliegenden elektrischen Installationen sind längst verrottet, es riecht nach Staub, Moder und Verwesung.

GUATEMALAS WAHL

Die Wahl: Am kommenden Sonntag sind sechs Millionen GuatemaltekInnen zur Wahl aufgerufen. Sie wählen einen neuen Präsidenten, das Parlament sowie die Bürgermeister. Vierzig Bewerber werden allerdings nicht mehr dabei sein - sie sowie viele ihrer Angehörigen wurden in den letzten Wochen des Wahlkampfs ermordet.

Die Präsidentschaftskandidaten: Um das Präsidentenamt bewerben sich fünf KandidatInnen. Die größten Chancen haben der Mitte-links-Politiker Álvaro Colom von der Partei Nationale Einheit der Hoffnung (UNE) und der Mitte-rechts-Mann Otto Pérez Molina von der Patriotischen Partei (PP). Pérez Molina befehligte in den dunkelsten Tagen des Bürgerkriegs eine Einheit, die für mehrere Massaker verantwortlich ist. Später wurde er Chef des berüchtigten militärischen Geheimdiensts. Mit Rigoberta Menchú, der Friedensnobelpreis-Gewinnerin von 1992, tritt zum ersten Mal eine Vertreterin der indigenen Bevölkerung an. Sie dürfte aber kaum fünf Prozent erhalten. Nicht weil sie eine Frau und eine Maya ist, sondern weil sie die letzten Jahre vor allem außerhalb des Landes verbrachte und kaum mehr Kontakt zur Bevölkerung hat. Neben Menchu treten noch Alejandro Giammattei und Eduardo Suger an.

Die Prognose: Nach den letzten, am 22. August veröffentlichten Umfragen, liegt Colom nur noch mit 22 Prozent der Stimmen vor Pérez Molina, der es mit seinem Wahlversprechen der harten Hand auf 17 Prozent bringen würde. Es wird angenommen, dass eine Entscheidung erst durch eine Stichwahl am 4. November fällt. Dann wird es auf die Bildung von Koalitionen mit den ausgeschiedenen drei Kandidaten ankommen.

Die Räume sind zugestapelt mit Papier; manchmal in Regalen, aber auch einfach auf dem Boden. Etliche Stapel sind umgekippt, Ratten, Schaben und Holzwürmer fressen sich durch die Aktenberge, an der Decke hängen Fledermäuse. In diesem Zustand wurde das Archiv am 5. Juli 2005 "entdeckt", und im Grunde sieht es noch heute, zwei Jahre später, so aus.

In diesem Chaos ist - neben vielen Belanglosigkeiten - eine grausame Geschichte archiviert: 36 Jahre Bürgerkrieg, in denen die Polizei neben der Armee das wichtigste Instrument des staatlichen Terrors war. Die Polizisten waren für die Militärdiktatoren sogar zuverlässiger als deren eigene Soldaten: Die Generäle putschten sich gegenseitig weg, die Nationalpolizei aber diente jedem, der gerade ans Ruder kam. Zwischen 1960 und 1996 wurden mit ihrer Hilfe 400 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Die Zivilbevölkerung hatte unter 700 Massakern zu leiden, mindestens 200.000 Menschen wurden in dieser finsteren Zeit getötet. Unzählige Opfer verschwanden einfach, ihre Leichen wurden nie gefunden. Die meisten, über 90 Prozent, waren Indígenas, die anderen gehörten zur linken Guerilla.

Viele der damaligen Verbrechen wurden nie aufgeklärt, geschweige denn gesühnt. Die Angestellten der Menschenrechtsbehörde, die begonnen haben, das Archiv aufzuarbeiten, suchen nun nach den Spuren jener Verschwundenen. Doch ihre Suche könnte bald wieder eingestellt werden: Am 9. September wird in Guatemala ein neuer Präsident gewählt. Zu den Favoriten gehört Exgeneral Otto Pérez Molina; ein Mann mit dunkler Vergangenheit. Sollte er gewinnen, dürfte er kein Interesse daran haben, dass Guatemalas schlimme Geschichte ans Licht kommt.

Manche Akte wurde Klopapier

Das Archiv war von der Gründung bis zur Auflösung der Nationalpolizei 1997 in Betrieb. 117 Jahre in Akten. Manchmal wurden die Unterlagen in geschnürten Bündeln angeliefert, manchmal einfach vor die Tür gekippt. Im Polizeijargon hieß das Haus "die Müllhalde". Eine Anordnung, laut der es verboten war, Akten als Klopapier zu benutzen, sagt alles über den Umgang mit dem Material. Die angelieferten Schriftstücke wurden bestenfalls nach Jahren und Polizeieinheit geordnet, dann landeten sie auf irgendeinem Stapel. So kommt es, dass ein Antrag auf einen Führerschein auf der Akte über den Fund einer Leiche mit Folterspuren liegt, Listen mit den Namen ermordeter Oppositionspolitiker neben Fällen von Viehdiebstahl. Auch über Ernesto Ché Guevara, der sich Mitte der 50er-Jahre in Guatemala-Stadt aufgehalten hatte, gibt es ein Dossier.

Natürlich wussten Regierung, Justiz und Polizei immer, dass es dieses Archiv gibt. Aber als 1997 die Wahrheitskommission nach einem Polizeiarchiv fragte, sagte der damalige Präsident Alvaro Arzú, so etwas gebe es nicht. Nur durch Zufall wurde das Haus acht Jahre später entdeckt. Bei einer Inspektion der Munitionsräumungsbehörde direkt neben dem Polizeiarchiv fielen jemandem die hohen Papierstapel hinter einem Fenster auf. Was man fand, war eine Müllhalde des Grauens.

"Es ist das erste Mal, dass wir schwere Verbrechen des Bürgerkriegs nicht nur durch Zeugenaussagen der Opfer, sondern mit den Dokumenten der Täter rekonstruieren können", sagt Alberto Fuentes. Er betreut das Archiv. Die Aufarbeitung begann schleppend. Zunächst musste die Menschenrechtsbehörde gerichtlich durchsetzen, dass sie überhaupt in den Papieren ermitteln darf. Dann musste Personal gesucht und geschult werden. "Wir hatten keine Ahnung, wie man ein Archiv aufarbeiten und nutzen kann", sagt Fuentes. Und schließlich musste das Gebäude abgesichert werden. 16 Videokameras wurden istalliert, private Sicherheitskräfte wachen heute rund um die Uhr. Der Vorsitzende der Veteranenvereinigung der Armee hatte dem Menschenrechtsbeauftragten offen mit Anschlägen gedroht. Kein Wunder, er weiß, dass sich in den Papieren Brisantes über seine Leute finden kann. Ein Molotowcocktail wurde schon über den Zaun geworfen.

"Spektakuläre Dokumente, in denen Morde angeordnet werden, findet man nicht", sagt Fuentes. "Man muss puzzeln, um zu verstehen, wie das damals funktioniert hat. Man muss Befehlsketten verfolgen, die internen Beziehungen der Polizei rekonstruieren, herausfinden, wer mit wem gesprochen hat." Einige Fälle konnten auf diese Weise bereits aufgeklärt werden, in anderen verdichten sich die Verdachtsmomente. So konnten durch den Abgleich von Polizeiakten aufgefundene Leichen, Listen von Verschwundenen, Daten aus der Personalausweis-Abteilung und Archiven von Menschenrechtsorganisationen 40 Tote identifiziert werden, die in den Achtzigerjahren auf dem Armenfriedhof von Guatemala-Stadt anonym begraben wurden. Und man weiß inzwischen, wie eine neunköpfige Familie spurlos verschwinden konnte: Es gibt eine Akte über ihre Verhaftung, laut der alle neun, vom einjährigen Baby bis zur 73-jährigen Großmutter, der Guerilla angehört haben sollen.

Sechs Millionen der 80 Millionen Akten wurden bislang gesäubert und vorgeordnet. Männer und Frauen mit Mundschutz und Handschuhen trennen die oft verklebten Blätter voneinander, sie entfernen Metallklammern und stecken jeden Fall in einen Umschlag. Der wird nach Datum und Polizeieinheit abgelegt. Dreieinhalb Millionen dieser vorsortierten Akten sind schon eingescannt, sie liegen verschlagwortet auf einem Server im Archiv und auf einem zweiten in der Menschenrechtsbehörde. Ein dritter soll demnächst in der Schweiz aufgestellt werde - aus Sicherheitsgründen.

Die Folter-"Insel"der Polizei

206 Mitarbeiter beschäftigt die Behörde im Archiv. Rechte Politiker haben diesen Aufwand bereits scharf kritisiert: Man suche nach einer Nadel im Heuhaufen und gebe viel Geld für fragwürdige Ergebnisse aus. Fuentes widerspricht. Seine Leute haben bisher 18.000 Akten stichprobenhaft untersucht, "davon haben 2.700 mit schweren Menschenrechtsverletzungen zu tun: mit aufgefundenen Leichen, mit Verschwundenen oder Entführungen". Armee und Polizei wissen wohl, warum sie das Archiv gern für immer schließen würden.

Der Grund jedoch sind nicht nur die Akten. Die Menschenrechtler fanden auch einen verwinkelten Trakt mit vielen Kammern, ohne Fenster und mit nur einer kleinen Tür. "Als wir das erste Mal hier reinkamen, lagen vergammelte Matratzen auf dem Boden, Reste von Drogen und Medikamenten und Exkremente", sagt Fuentes. Seine Stimme stockt. Jeder weiß, dass die Polizei irgendwo in Guatemala-Stadt ein geheimes Folterzentrum unterhalten hat, es wurde "die Insel" genannt. Fuentes zeichnet einen Plan in den Notizblock - der Trakt liegt wie eine Insel mitten im Gebäude: "Ich bin sicher, dass dies die Insel ist".

Ob je bewiesen werden kann, dass hier, in der Zone 6, tatsächlich die "Insel" war? Fuentes bezweifelt das: "Wenn bei der Wahl am Sonntag Pérez Molina gewinnt, werden wir am Montag alle dieses Haus verlassen müssen."

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