Guan Jianzhong von Ratingagentur Dagong: "Ideologie ist kein Maßstab"
Die drei US-Rating-Agenturen haben ihre Legitimität verloren, sagt Guan Jianzhong von der chinesischen Agentur Dagong. In China bewerte man die Kreditwürdigkeit von Staaten anders.
taz: Herr Guan, Sie haben weltweit Aufsehen erregt, als Ihre Firma im vergangenen Herbst die Kreditwürdigkeit der USA erstmals herabstufte. Wie sehen Sie die Lage jetzt?
Guan Jianzhong: Es wird immer schlimmer. Die USA haben ihre selbst gesetzte Obergrenze der Verschuldung schon durchbrochen und machen mehr und mehr Schulden, allein um die Regierung am Laufen zu halten. Sie sparen nicht bei ihren Ausgaben, obwohl sie auf der Einnahmenseite nicht sehr viel zu erwarten haben. Das größte Problem liegt darin, dass sie an wirtschaftlichen Konzepten und politischen Entscheidungen festhalten, die dem Land eine langfristige Rezession bescheren. Sie müssen ständig die Schulden der Gemeinden erhöhen, um das Wachstum zu fördern - dieses Verhaltensmuster ist schuld an der Misere, in der sich die USA heute befinden. Das Problem ist grundsätzlicher Natur.
Was würde geschehen, wenn auch die US-Rating-Agenturen die USA herabstuften?
Dafür gibt es nur ein Wort: Katastrophe. Es könnte das gesamte amerikanische Finanzsystem paralysieren und eine Kreditkrise hervorrufen, die schlimmer als die von 2008 wäre. Weil die USA das Zentrum der globalen Wirtschaft und Finanzen sind und alle Kredit- und Schuldenprobleme damit verbunden sind, wären die Auswirkungen sofort in der ganzen Welt zu spüren.
Wird es besser, wenn der amerikanische Kongress eine neue Schuldenobergrenze festlegt?
Faktisch wird sich damit wohl nichts Wesentliches ändern. Nur vom Gesetz her: Es erlaubt ihnen, noch mehr zu borgen, um alte Schulden zu begleichen. Wären die USA zahlungsunfähig, dann würden sie wohl sofort zum dritten Mal riesige Geldmengen auf den Markt werfen - und dieses Mal womöglich nicht nur 600 Milliarden, sondern tausende von Milliarden Dollars.
ist Vorstandschef der chinesischen Ratingagentur Dagong Global Credit Rating Co. Ltd. mit Sitz in Peking.
Dagong wurde 1994 gegründet und hatte sich zunächst auf die Bewertung lokaler Unternehmen spezialisiert. Inzwischen hat die Firma fast 500 Mitarbeiter und bewertet auch die Kreditwürdigkeit von ausländischen Unternehmen und anderen Staaten.
Guan ist seit seiner frühen Jugend Mitglied der Kommunistischen Partei. Heute berät er unter anderem die Regierung. Über sein Alter verrät er nur so viel: "Ich bin geboren im Jahr des Pferdes."
Wie unterscheiden Sie sich als chinesische Ratingagentur von ihren drei großen amerikanischen Konkurrenten?
Wir bewerten die Kreditwürdigkeit eines Staates nach anderen Maßstäben. Fünf Jahre lang haben wir analysiert, welche Maßstäbe die amerikanischen Ratingagenturen anlegen, und sind auf viel Problematisches gestoßen. Das fängt bei ihren fünf Bewertungskriterien an. Erstens beurteilen sie jedes Land danach, wieweit es westlichen Vorstellungen von Demokratie entspricht. Zweitens beurteilen sie die wirtschaftliche Stärke nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung.
Da liegen die USA vorn.
Drittens beurteilen sie die wirtschaftlichen und finanziellen Aussichten eines Landes danach, wie offen seine Wirtschaft und sein Finanzsystem sind. Unserer Ansicht nach sagt dies aber nichts darüber aus, ob ein Land fähig ist, seine Schulden zurückzuzahlen. Viertens wollen sie wissen, ob die Zentralbank eines Landes unabhängig von der Regierung ist. Und sie wollen auch sehen, ob das Land über eine konvertible Währung verfügt. Die beiden letzten Kriterien sind für sie Vorbedingungen für eine AAA-Bewertung. Und fünftens interessieren sie sich nicht für die Einkommenssituation eines Landes, sondern für die Fähigkeit, Gelder zu beschaffen. Das heißt, alte Schulden werden durch neue finanziert.
Was ist falsch daran?
Sie haben ihre Kriterien den westlichen Ländern auf den Leib geschneidert. Wir haben die fünfzehn Topschuldennationen analysiert: Alle entsprechen diesen Kriterien. Island, Irland, Griechenland, Italien und Spanien bekamen deshalb gute Noten. Die USA und Großbritannien werden mit AAA bewertet und können nicht heruntergestuft werden. Fakt ist jedoch, dass diese Maßstäbe überhaupt nichts darüber aussagen, ob ein Staat praktisch fähig ist, seine Schulden zurückzuzahlen. Darin liegt der Grund der heutigen Schuldenkrise der Industrieländer: Nach solchen Kriterien musste die Welt glauben, dass diese Länder kein Risiko darstellen.
Deshalb fand sich immer jemand, der ihnen Geld borgte.
Und jetzt sehen wir, dass es ein Fehler war. Man hat eine Ideologie beziehungsweise eine Wertvorstellung zum Maßstab der Risikobewertung von Ländern gemacht. Das ist nicht vernünftig.
Wie sehen Ihre Kriterien aus?
Erstens suchen wir nach den internen Risikofaktoren. Zum Beispiel bei den USA oder Japan, deren Kreditwürdigkeit wir übrigens auch heruntergestuft haben. Es ist uns egal, wie oft sie betonen, dass ihr politisches und wirtschaftliches System besonders gut sei. Was uns interessiert, ist die Wirkung, die das System auf ihr wirtschaftliches Management hat, das ist unser Bewertungsstandard. Zweitens analysieren wir die Wachstumsperspektiven eines Landes. Wir beurteilen seine gesamten Industrien danach, welchen Rang sie in der Welt haben und wie wettbewerbsfähig sie sind - und nicht nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf oder danach, ob ein Land offen ist oder nicht. Drittens berücksichtigen wir ihr Finanzsystem. Die USA und europäische Staaten zum Beispiel haben sich nicht an der realen Wirtschaft orientiert.
Was heißt das?
Ihre Finanzleute konnten sich immer neue Kreditprodukte zusammenschustern, schließlich wuchs der Anteil des virtuellen Reichtums stärker als der reale Reichtum. Dies ist ein sehr wichtiger Grund dafür, dass die USA in die Finanzkrise geraten sind. Um die Risiken zu beurteilen, müssen wird deshalb das Verhältnis von Finanz- und realer Ökonomie betrachten. Viertens ist es fundamental wichtig, das exakte finanzielle Einkommen zu untersuchen. Fünftens müssen wir die Fähigkeit eines Landes beurteilen, Devisenreserven anzulegen. China zum Beispiel hat über 3 Billionen Dollar in Devisenreserven, deshalb verdient es unserer Ansicht nach die Note AAA.
Wem gehört Dagong? Ist es eine staatliche Firma?
Ich bin der Besitzer. Ich stamme aus der Provinz Shanxi, habe früher in der Regierung gearbeitet, wechselte dann in die Privatwirtschaft. Unser Prinzip ist die Unabhängigkeit. Dagong ist unabhängig von der Regierung und von staatlichem Kapital. Unser Team und die Teilhaber dürfen nicht im Bond- und Aktienmarkt tätig sein. Nur so können wir glaubwürdig arbeiten.
Der Ruf nach einer Reform des Ratingsystems wird lauter. Was schlagen Sie vor?
Ich arbeite darauf hin, dass wir eine neue internationale Institution schaffen, in der die Ratingagenturen aller Länder zusammenarbeiten, um die Sicherheit der globalen Kreditsysteme zu garantieren. Wir werden mit dieser Idee Erfolg haben.
Warum sind Sie sich da so sicher?
China ist das Land mit der zweitgrößten Wirtschaft und mit guten wirtschaftlichen Aussichten. Und es ist ein Kreditgeber. Es ist doch vernünftiger, wenn die Gläubiger die Kreditwürdigkeit der Schuldner bewerten und nicht umgekehrt. Außerdem haben die drei US-Agenturen ihre Legitimität verloren.
Brauchen wir international gültige Regeln für Ratingagenturen?
Wir sollten zuerst eine neue internationale Ratingagentur schaffen, dann gemeinsam Kriterien entwickeln und uns schließlich für ein internationales Regelwerk einsetzen.
Was halten sie von einer europäischen Ratingagentur?
Diesen Vorschlag gibt es schon seit 2008. Er ist verständlich: Die Europäer leiden darunter, dass ihre Ratings von hohen auf niedrigere Positionen gerutscht sind. Aber objektiv gesehen ist die gesamte europäische Wirtschaft verschuldet. Wenn Schuldner sich selbst bewerten - wer soll dann das Resultat ernst nehmen? Wenn es allerdings nur darum geht, die Bewertungen innerhalb der Eurozone als Referenz zu nutzen oder der Europäischen Zentralbank eine Frühwarnung zu geben, dann ist das etwas anderes.
Was sollten die Europäer in dieser Situation tun?
Erstens könnten sie sich für die Reform des internationalen Ratingsystems einsetzen. Zweitens sollten sie Dagong nach Europa bringen, weil unsere Ratingergebnisse objektiv sind. Wir könnten die Rolle von Checks and Balances gegenüber den drei großen amerikanischen Agenturen übernehmen.
Dagong statt Moody's für Europa?
Die Europäer sollten ein doppeltes Ratingsystem einführen: Wenn die drei US-Firmen ihre Bewertung beendet haben, sollte man Dagong beauftragen, das Ganze noch mal zu untersuchen. Die zusätzlichen Kosten wären minimal. Ich glaube, dies würde die Situation in Europa drastisch verändern.
Wenn Sie heute als Moderator zu den Schuldenverhandlungen zwischen US-Präsident Obama und den Republikanern ins Weiße Haus geladen würden, was würden Sie empfehlen?
Sie sollten an die langfristigen Interessen ihres Landes denken - und das Muster ihres Wirtschaftswachstums und die globale Strategie entsprechend ausrichten. Es ist sehr teuer, Weltpolizist zu sein und gleichzeitig mehrere Kriege zu führen. Wenn die hegemoniale Strategie verändert wird, dann werden sich auch die Ausgaben reduzieren. Am Ende wird das einfache Volk in Amerika den Nutzen davon haben. Wenn man ständig Geld borgen muss, um seine Hegemonie zu finanzieren, ist das langfristig nicht tragbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin