Grüner Landesparteitag in Berlin: "Künast tritt nicht als Monarchin an"
Die Grünen wollen Renate Künast zur Nr. 1 ihrer Kandidatenliste für die Abgeordnetenhauswahl machen. Die neuen Landesvorsitzenden über ihre Spitzenkandidatin, die Volkspartei und neue Bürgerlichkeit.
taz: Frau Jarasch, Herr Wesener, nennen Sie doch mal drei Gründe, warum ich jenseits aller Umfrageergebnisse glauben soll, dass sich Renate Künast wirklich für Berlin interessiert. Den Eindruck haben nämlich längst nicht alle.
Bettina Jarasch: Da ist erst mal die Tatsache, dass sie seit über 30 Jahren hier wohnt und dass das deshalb auch ein Heimspiel für sie ist. Und zwar nicht nur, wenn sie auf dem Winterfeldtmarkt unterwegs ist, sondern auch in Betrieben, Krankenhäusern und Schulen.
Daniel Wesener: Und zum Zweiten ist da ihre Entscheidung, die Herausforderung anzunehmen und für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin zu kandidieren.
Bettina Jarasch und Daniel Wesener: Die 42-Jährige hat Philosophie und Politik studiert. Seit 2009 ist die "Reala" im Landesvorstand, wurde im März 2011 zu dessen Vorsitzender gewählt. Sie ist Gemeinderatschefin einer katholischen Gemeinde in Kreuzberg.
Der 35-jährige Wesener kommt aus der Bezirkspolitik des grün regierten Friedrichshain-Kreuzberg, wo der linke Parteiflügel dominiert. Dort war er Fraktionschef und arbeitete für den dortigen Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele. (sta)
Vor fünf Wochen haben die Grünen ihr Programm für die Abgeordnetenhauswahl am 18. September beschlossen. Diesen Samstag und nächstes Wochenende geht es darum, wer dieses Programm neben den direkt gewählten Abgeordneten im Parlament vertreten soll. Dazu will die Partei eine Landesliste mit rund 60 Kandidaten aufstellen. Das macht sonst nur die Linkspartei - bei SPD, CDU und FDP hat jeder Bezirk eine eigene Liste.
Derzeit besetzen die Grünen 23 der 149 Sitze im Parlament, gemäß ihrem Wahlergebnis von 2006 von 13,1 Prozent. Bekämen sie am 18. September jene 28 Prozent, die ihnen jetzt eine Umfrage zuspricht, würden daraus über 40. Bislang gibt es über 140 Bewerbungen für die Liste, die doppelt quotiert ist: Alle ungeraden Plätze sind für Frauen reserviert, jeder dritte Platz für jene, die bislang keinen Parlamentssitz haben. Auf Platz 1 soll Renate Künast stehen, die bereits im November zur Kandidatin fürs Amt der Regierenden Bürgermeisterin ausgerufen wurde. (sta)
Das muss nicht Interesse sein. Das kann genauso reine Strategie sein, um den Berliner Grünen mit ihrer Bekanntheit am 18. September ein paar Prozent mehr zu beschaffen und sich dann zurück in den Bundestag zu verabschieden.
Jarasch: Ich sehe das anders und will dafür den dritten Grund nennen: Renate Künast hat in den letzten Monaten so viele Gespräche geführt und so viel Handlungsbedarf definiert, aber auch so viel Unterstützung und Hoffnung erlebt, die sich tatsächlich auf sie stützt. Ich glaube, dass das für sie ein Motor ist, zu zeigen, dass man hier Dinge wirklich anders angehen kann.
Wesener: Und wer Renate Künast kennt, der weiß, dass sie keine Frau für Show und taktische Spielereien ist, sondern dass sie nach dem Prinzip "Ganz oder gar nicht" Politik macht.
Mal angenommen, dass dem so ist: Kann sich dann Ihre Partei verweigern, wenn Frau Künast nach einem entsprechenden Wahlergebnis im Herbst sagt: Ich will mit der CDU koalieren, weil ich nur so Regierende Bürgermeisterin werden kann?
Wesener: Die aktuellen Umfragen zeigen, dass eine realistische Chance besteht, in Berlin stärkste politische Kraft zu werden. Wir glauben daran, aber es bleibt ein Kopf-an-Kopf-Rennen bis zum 18. September. Wir sind eine politische Partei und keine Hellsehervereinigung. Wie die Wahl ausgeht, das muss man abwarten.
Bei der Frage geht es ums Prinzipielle: Was hat Frau Künast von ihrer Partei mitbekommen, als die Grünen sie zur Kandidatin ausgerufen haben? Bei UN-Einsätzen würde man fragen: Wie robust ist ihr Mandat?
Jarasch: Renate Künast tritt nicht als Monarchin an, sie tritt als die Spitzenkandidatin einer basisdemokratischen Partei an. Das weiß sie sehr genau - sie kennt ja ihre Grünen. Wir sind uns einig, dass wir die Koalitionsentscheidung am Ende gemeinsam treffen werden.
Herr Wesener, zum ersten Mal seit fast durchgängig acht Jahren - ein knappes Jahr war Barbara Oesterheld zwischenzeitlich Vorsitzende - ist wieder ein Vertreter des linken Parteiflügels Grünen-Landeschef. Was folgt daraus?
Wesener: Daraus folgt, dass der Landesvorstand die ganze Partei abbildet und nicht nur einen Flügel. Das halte ich für wichtig. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Kategorien, die uns zugeschrieben werden - ich Linker, Bettina Jarasch Reala -, die Basis unserer Politik sind oder wir uns ausschließlich darüber definieren. Das mag eine Außensicht sein - mit der Innenperspektive hat das relativ wenig zu tun.
Warum?
Wesener: Weil es Aufgabe des Landesvorstands ist, die gesamte Partei zu repräsentieren und programmatisch weiter zu entwickeln. Und da gibt es nicht nur einen, vielleicht auch nicht nur zwei Flügel, sondern über 5.000 Mitglieder.
Jarasch: Ich will ein Beispiel dafür nennen, warum dieses Flügeldenken unsere Arbeit im Parteivorstand nicht dominiert. Es gilt als typisch links, basisdemokratisch und für direkte Demokratie zu sein. Für mich, die Reala, ist ein wichtiges Projekt die Öffnung zu den Bürgern und eine aktive Bürgergesellschaft. Aus beidem heraus resultiert aber eine ganz ähnliche Einstellung zu dem, was wir hier organisiert kriegen wollen. Deshalb sind wir uns im Parteiverständnis ähnlicher, als man es vielleicht vermuten würde.
Frau Jarasch, Sie haben Ihren Parteifreunden kurz nach Ihrer Wahl vor knapp fünf Wochen gesagt: "Keine Angst vor der Volkspartei". Andere, auch Renate Künast, scheuen diesen Begriff wie die Harry-Potter-Welt den Namen Voldemort.
Jarasch: Harry Potter nennt ihn ja.
Warum sind sie also so ein grüner Harry Potter, und warum scheuen die anderen davor zurück?
Jarasch: Weil der Begriff traditionell mit einem Politikkonzept verbunden wird, bei dem man als Funktionär die Interessen bestimmter Gruppen vertritt. Deshalb gibt es Volksparteien auch nur im Plural.
Volkspartei sagt doch vom Wortsinn her genau das Gegenteil: nicht für Einzelinteressen, sondern für das Volk, die Bevölkerung, für alle.
Jarasch: In der Praxis war es lange doch so, dass die großen Parteien jeweils für große Einzelgruppen standen: für die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer, früher für die Katholiken oder die Protestanten. Wenn wir jetzt Volkspartei werden, dann meinen wir tatsächlich nicht die Summe von Einzelinteressen, sondern das Gemeinwohl. So haben wir ja auch unser Wahlprogramm überschrieben: Eine Stadt für alle. In einem Porträt über Winfried Kretschmann habe ich einen schönen Satz gelesen: Typisch für Grün sei, dass man im Schützenverein und trotzdem für ein schärferes Waffenrecht sein kann.
Herr Wesener, Sie verwenden den Begriff Volkspartei nicht, sagen aber auch: Die Wahl am 18. September wird nicht allein in den Innenstadtbezirken gewonnen. Das geht doch letztlich in die gleiche Richtung.
Wesener: Ich habe in der Tat meine Schwierigkeiten mit dem Begriff. Das hat aber nicht unbedingt etwas mit dem Schubladendenken von links oder Realo zu tun, denn ein Christian Ströbele (für den Wesener mehrere Jahre arbeitete, d. Red.) spricht auch gerne von Volkspartei. Für mich ist dieser Begriff ein Begriff von gestern, entstanden in der Nachkriegszeit. Wenn überhaupt, dann würde ich mich vielleicht noch dazu hinreißen lassen, von Bevölkerungspartei zu sprechen.
Da sind wir ja zurück bei der alten Diskussion über die Inschrift am Portal des Reichstags "Dem deutschen Volke" und der Installation im Innenhof, "Der Bevölkerung".
Wesener: In Berlin gibt es viele Menschen, die hier seit vielen Jahren leben und keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Unseren Ansatz, für alle dazu sein, darf man nicht verwechseln mit dem, was bisher für die Volkspartei galt. Denn das würde heißen, dass SPD und CDU Politik für die gesamte Bevölkerung gemacht hätten. Das würde ich in Abrede stellen, und zwar ganz deutlich. Was uns als Grüne auszeichnet, ist, dass wir diese Gemeinwohlorientierung haben und nicht nur die Interessen unserer Wählerinnen und Wähler exekutieren.
Wo wir gerade bei Begriffsdefinitionen sind: Oft heißt es, die Grünen würden "bürgerlich", was sonst immer Schwarz-Gelb zugeordnet wird. Ist das für Sie negativ oder hat der Begriff etwas vom engagierten citoyen im Geist der Aufklärung?
Jarasch: Ich persönlich sehe den Begriff nicht als Beleidigung. Es gibt ja so ein paar Mythen in der Gründungsgeschichte der Grünen. Das waren ja längst nicht alles antibürgerliche Bewegungen. Es gab die K-Gruppen aus Hamburg, es gab aber zum Beispiel auch meine ehemalige Chefin Christa Nickels (frühere Abgeordnete, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken, d. Red.), die vom Land, vom Niederrhein, kommend im weißen Spitzenblüschen den Lederjackenträgern und Kettenrauchern gegenübersaß.
Bürger eines Landes eben.
Jarasch: Das sowieso, auch wenn ein Teil davon sich nicht so bezeichnet hätte. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, wie breit unser Spektrum von Anfang an war. Zum Zweiten hat für mich Bürgerlichkeit viel mit Selbstbestimmung und Engagement zu tun. Bürger sind für mich die, die sich als Teil eines politischen Gemeinwesens empfinden und mit entscheiden wollen. In diesem Sinne begrüße ich eine neue Bürgerlichkeit.
Und Sie, Herr Wesener?
Wesener: Wenn man sagt, der moderne Bürger ist der Citoyen mit sozialer Verantwortung, nicht der Bourgeois als Besitzstandswahrer, dann kann ich nur sagen: Daccord.
Womit wir alle unsere Bildungsbürgerlichkeit unter Beweis gestellt hätten.
Wesener: Für irgendetwas muss es ja nütze sein. Spannender ist für mich noch etwas anderes: Wenn man die vermeintlichen bürgerlichen Grünen-Wähler fragen würde, ob sie sich als bürgerlich definieren, kämen da bestimmt sehr unterschiedliche Antworten. Auch die Patchwork-Familie beispielweise kann heute bürgerlich daherkommen - das wäre in den 50er-Jahren völlig undenkbar gewesen.
Zu dieser neuen Bürgerlichkeit könnte etwas anderes gehören, was Sie, Frau Jarasch, jüngst gesagt haben: Vielleicht müssten sich die Grünen jetzt auch mit so spießigen Themen wie sauberen Straßen beschäftigen. Mal umgedreht: Was war denn bislang grün, links oder alternativ an dreckigen Straßen und Bürgersteigen?
Jarasch: Das war Selbstironie. An der Umdrehung merkt man ja, dass das überzogen ist. Der Wunsch nach sauberen Straßen gilt klassischerweise als spießig. Tatsächlich ist es doch so: Man kann noch so sehr im linksalternativen Milieu verwurzelt sein - spätestens wenn man Kinder bekommt, fängt man an zu denken: Etwas weniger Hundedreck und Scherben auf dem Bürgersteig oder in den Parks wären auch ganz schön.
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