Grüne und Krieg : Der Schwur auf die Realität
Warum ist der grüne Teil der Gesellschaft vorn dran, wenn es um Krieg und Waffenlieferungen geht?
Von PETER UNFRIED
taz FUTURZWEI, Ausgabe N°21 | Aus guten Gründen pflegen die Bundesdeutschen seit über siebzig Jahren eine friedliebende Kultur. Sie überfallen niemanden mehr und begehen auch keinen Genozid, wie es ihre Urgroßeltern, Großeltern oder sogar noch Eltern zu tun pflegten. Sie haben zwar den militärischen Schutz der USA und der Nato stets in Anspruch genommen, waren aber immer sehr zurückhaltend, wenn es um den eigenen Beitrag ging. Das Bewusstsein der Schuld am Holocaust und zwei Weltkriegen und der daraus resultierenden Verantwortung ist breit in allen Teilen der liberaldemokratischen Gesellschaft verankert.
Das beinhaltete oft auch, Kritik am Stalinismus zu meiden, um Hitlers Deutschland nicht zu relativieren. Aber selbstverständlich wurde das nirgends so woke vor sich hergetragen wie bei unseren geliebten Grünen. Warum also, so fragen sich immer noch Leute und auch einige Grüne, warum ist ausgerechnet der grüne Teil der Gesellschaft nun ganz vorn dran, wenn es um Zustimmung zu Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine und das Sanierungsprogramm für die Bundeswehr geht?
Zunächst mal muss man daran erinnern, dass selbst der legendäre Hans-Christian Ströbele, oberster Hüter der Kreuzberger Grünenideale, nie Pazifist war, sondern ideologische Differenzierungen vornahm zwischen guten Waffenlieferungen, für die er Geld sammelte (El Salvador), und bösen Waffenlieferungen, die er ablehnte und ablehnt (Israel, Ukraine).
Partei des Menschenrechts
Wichtiger ist aber, dass die Grünen eine Partei des Menschenrechts und des Völkerrechts sind. Sie setzen seit der ersten Wahlteilnahme 1979 auf nationale und internationale Institutionen zu deren Durchsetzung. Das klingt erst einmal nach Parteitagsgerede, aber es erklärt, warum sie heute Waffen in Krisengebiete liefern und bei ihrer ersten Mitregierungsphase 1999 mit der Nato militärisch in den Krieg in Jugoslawien eingriffen.
Die Grünen sind historisch gesehen eben nicht DIE Partei DER Friedensbewegung, wie es gern und fälschlich heißt. Teile der Friedenbewegung gingen in die Grünen rein, so wie es auch andere Bewegungen taten, die sich als progressiv labelten. Historisch gesehen haben die Grünen dann aber die Friedensbewegung gespalten. Der eine Teil dieser Bewegung protestierte in den frühen 1980ern gegen US-amerikanische Pershing II und Cruise Missiles, der andere demonstrierte zudem auch gegen die sowjetrussischen SS 20. Die einen in der Friedensbewegung waren Jungsozialisten, Teile der Grünen, und auch ein damaliger Juso-Vorsitzender namens Scholz, die die Schuld nur beim Ami sahen.
Die anderen, damals eine Minderheit in der Friedensbewegung, aber eine Mehrheit bei den Grünen, sahen beide Seiten des kalten Krieges gleichermaßen problematisch. »Im bundesweiten Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung wurden Frieden und Menschenrechte und Völkerrecht von der Mehrheit leider säuberlich getrennt, ein Versuch, die Friedensbewegung für eine sowjetrussische Außenpolitik zu missbrauchen«, sagt Grünen-Gründer Lukas Beckmann. Bei den Grünen wurde nicht zwischen Frieden hier und Menschenrechten dort getrennt. Zumindest nicht von der Mehrheit, die der Koordinierungsausschuss forcierte. Was heißt das? Es heißt für Beckmann, dass man keine Friedenspolitik nach außen machen kann, wenn man zu Hause die Menschenrechte außer Kraft setzt und die eigenen Leute einsperrt, wie das alle totalitären und damit auch die sozialistischen Regime zu tun pflegen.
Völkerrecht und Menschenrecht muss man durchsetzen
Das führt uns zum Nato-Einsatz im Kosovo, den der erste grüne Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer 1999 bekanntlich innerparteilich mit der Begründung durchsetzte, dass die Lehre der Deutschen aus ihrer furchtbaren Geschichte nicht nur »nie wieder Krieg« sei, sondern auch »nie wieder Auschwitz«. Womit er sagte: Um Völkerrecht und Menschenrecht durchzusetzen und einen Genozid im Kosovo zu verhindern, müssen wir mit dem ersten Grundsatz brechen und bundesdeutsche Soldaten schicken – allerdings niemals allein und national, aber sehr wohl als Teil einer internationalen Institution.
Nun war es nicht Fischer, der die Grünen drehte. Schon 1993 hatten Beckmann, Daniel Cohn-Bendit und Marieluise Beck einen Nato-Eingriff gefordert, um die Serben daran zu hindern, die Bosnier umzubringen. Ein Antrag beim Grünen-Parteitag, das auch nur auf die Tagesordnung zu setzen, bekam 27 Stimmen, über neunzig Prozent stimmten dagegen, darunter der spätere Bundesaußenminister, der eben genau nicht dafür bekannt war, sich für aussichtslose Positionen gegen die aktuelle Stimmung der Parteiseele zu stellen. Die Positionen, die schon vor drei Jahrzehnten aufeinanderprallten, sind die von heute: unterschiedliche Einschätzungen, ob militärische Hilfe das Schlimmste verhindert oder das Schlimmste erst bewirkt. Die USA lieferten dann Waffen nach Bosnien, die Europäer taten nichts, Hunderttausende starben, und es brauchte das Kriegsverbrechen von Srebrenica, ehe der Mainstream der Grünen und auch Fischer die Mindestposition von Beckmann, Beck und Cohn-Bendit überhaupt tolerierten, um sie später zu übernehmen. Sie lautete: Wenn wir schon nicht direkt helfen, dann helfen wir wenigstens, dass die Angegriffenen sich verteidigen können. Was im Grunde genau die Position ist, die die Grünen als Teil der Bundesregierung dreißig Jahre später gegenüber der Ukraine vertreten.
Die UN hat 1948 die allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Konsequenz der deutschen Verbrechen gegen Menschen- und Völkerrechte beschlossen, ihre Verbrechen gegen eigene Bürger und andere Staaten. Gestoppt hatte die Deutschen erst eine militärische Weltallianz. Heißt: Menschenrecht und Völkerrecht darf man nicht nur beschwören, man muss es gerade gegen Staaten und nicht-staatliche Terrorgruppen durchsetzen, die einen Scheiß darauf geben. »Ich war nicht bei der Bundeswehr, aber dass man Menschenrechte gegen totalitäre Systeme nicht gewaltfrei verteidigen kann, das war auch Gandhi klar«, sagt Beckmann. Sein Beleg: »Als Gandhi gefragt wurde, ob er Hitler mit gewaltfreien Strategien begegnet wäre, antwortete dieser sinngemäß: Das hätten wir nicht überlebt.«
Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.
Das Recht auf Waffenlieferungen an die Ukraine steht völkerrechtlich außer Frage
Die Lieferung von Waffen in die Ukraine unterscheidet allerdings ein wesentlicher Punkt vom Krieg in Jugoslawien: Der Nato-Einsatz damals fand ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats statt. Darum ist er bis heute umstritten. Die völkerrechtliche Begründung der Bundesregierung damals war, dass die humanitäre Katastrophe Handeln jenseits des Sicherheitsrates legitimiere. Die Gegner fürchteten, dass dadurch weitere Selbstmandatierungen folgen könnten. Damit hatten sie recht. Die Begründungen der USA für den Einmarsch im Irak und Russlands für den Überfall auf die Ukraine sind offensichtlich fragwürdige Selbstmandatierungen.
Dagegen steht das Recht auf Waffenlieferungen an die Ukraine heute völkerrechtlich nicht nur unter Grünen außer Frage. Es geht im Kern nicht um die medial dargestellte Alt-Polarisierung zwischen »Pazifisten« und »Bellizisten«, zwischen Verhandlern und Waffenlieferern, hier Habermas, dort Nassehi. Es geht um die Risikoeinschätzung des Konflikts und die Frage, wie die EU dem russischen Imperialismus effektiv begegnen kann. Dennoch ist es offenbar so, dass Teile der SPD, der klassischen Linksliberalen und auch ihrer Intellektuellen sich schwer damit tun, militärische Resilienz als Teil der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts zu sehen, während eine große Mehrheit der Grünen auf dem Weg zu diesem Verständnis ist.
Eine weitere Erklärung dafür ist, dass der Typus des angeblich klassischen Grünen, der in der guten alten Zeit zu dominieren schien und je nach Interessenlage als linksradikal, linkssozialdemokratisch, linksemanzipatorisch und/oder vollpazifistisch verstanden wird, damals schon nicht die große Mehrheit in der Partei war – und dass er heute in der radikalen Minderheit innerhalb der rasant gewachsenen Grünen-Mitgliedschaft und besonders der Wählerschaft ist. Die Mehrheit der Grünen repräsentiert heute die neue Mitte der bürgerlichen Gesellschaft: Leute in altersmäßiger und auch kultureller Distanz zu 1968 und 1979, die den bundesdeutschen Staat verbessern wollen, aber grundsätzlich ok finden, die den Pazifismus als Idee für richtig halten, die aber auch bereit sind zu erkennen, dass unsere europäische Freiheit im Zweifel nicht auf Friedenstauben und Gasleitungen beruht, sondern auf der Existenz von US-amerikanischen und französischen Atomsprengköpfen – und die finden, dass man den bedrohten Menschen in der Ukraine hilft, sich so verteidigen zu können, dass sie nicht oder schwerer von den Russen umgebracht werden können.
Akzeptanz grüner Nicht-Omnipotenz
Deshalb sind sie aber nicht etwa zu gewaltgeilen »Bellizisten« mutiert, sondern kämpfen mit sich, ihrem Wunsch nach einer gemütlicheren Welt und der Erkenntnis, dass alles nicht so läuft, wie man sich das schön oder gar nicht gedacht hat. Sie akzeptieren, dass man den moralischen Feldfrauen- und Feldherrenhügel nicht einfach tauschen kann, sondern grundsätzlich verlassen muss und das Entweder-oder-Paradigma sowieso.
Für diese Entwicklung, für die Erkenntnis, dass alles härter und unangenehmer wird, für die Akzeptanz der grünen Nicht-Omnipotenz, die Bereitschaft, Fehler zu machen und Fehler zu korrigieren, Härte zu zeigen und Kompromisse zu machen, dafür steht für die Deutschen im Moment ganz offensichtlich Vizekanzler Robert Habeck mit seinem Handeln und Sprechen. Habeck hatte schon Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert, als der Mainstream der Deutschen, die Bundesregierung und andere grüne Cheffunktionäre einschließlich Annalena Baerbock und Anton Hofreiter noch so taten, als sei eine solche Hilfe das größte Problem und nicht der Krieg, den Putin bereits seit 2014 gegen die Ukraine führte. Dass es mit der Wende nun so schnell ging, liegt nicht an Opportunismus oder Wendehalsigkeit, sondern an der Regierungsbeteiligung. Es ist eine zentrale Sache mit den Grünen, dass Regieren auch sie fundamental verändert. Schon 1998 war die Fraktion eine völlig andere vom Moment an, als die Minister vereidigt waren. Heute ist das wieder so, aber der wirkliche Paradigmenwechsel besteht möglicherweise darin, dass es auch für ihre Wähler und den wachsenden sozialökologischen Teil der Gesellschaft gilt.
Was Habecks Sprechen über Jahre vorbereitet hatte, wird nun zum politischen Faktor: Die Grünen-Wähler verstehen sich nun – in einer Mischung aus alter Überheblichkeit und neuer Demut – als Zentrum der (europäischen) Gesellschaft und als verantwortlich für alles. Der Amtseid, den die grünen Minister geleistet haben, ist ein Schwur auf die Realität. Das mag jetzt etwas seltsam klingen, aber auf eine Art haben viele ihrer Wähler ihn offenbar auch geleistet.
Peter Unfried ist Chefredakteur der taz FUTURZWEI.