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Grüne „nationale Befindlichkeit“

■ Grüne Bundestagsfraktion debattiert in Bonn kontroverse Haltungen zur Deutschlandpolitik / Elisabeth Weber: Reagans Mauer–Rede „aufregendstes Dokument der letzten Zeit“ / NATO–Austrittsforderung umstritten

Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Schon mit dem Titel für ihre Debatte am 17. Juni tat sich die grüne Bundestagsfraktion schwer: Sollte es nun um Deutschlandpolitik gehen, um Außen– oder Europapolitik? Sollte konkret die Forderung nach NATO–Austritt überprüft oder revidiert werden, wie es einige Realo–Grüne im Vorfeld gefordert hatten? Was auf der dicken Vorbereitungsmappe steht, klingt vieldeutig: „Westeuropa - Osteuropa: Kann Mitteleuropa vermitteln?“ Richtung Osten hatte es die grüne Fraktion zunächst bei der Wahl des Veranstaltungsortes gezogen: Die Frontstadt Berlin sollte der Debatte zur nationalen Frage das passende historische Ambiente geben. Das Ansinnen scheiterte an den politischen Bedenken der West–Berliner Alternativen Liste (AL), die an diesem heiklen Datum nicht den Gastgeber für die Bonner spielen mochte. So zog sich die Fraktion ins eigene Domizil im bei Bonn zurück. Einen Beweis für die Bandbreite grüner Positionen zum deutsch–deutschen Thema hatte erst drei Tage zuvor der Abgeordnete und Ex–DDR–Bürger Wilhelm Knabe geliefert: In einer Presseerklärung, die von den Fraktionskollegen teils mit Erheiterung, teils mit Verärgerung aufgenommen worden ist, appellierte er nach Reagans Mauer–Rede nun seinerseits an die DDR, die Mauer abzutragen und Stück für Stück für fünf Mark an die Bürger beider deutschen Staaten zu verkaufen. Wilhelm Knabe, Mitglied des innerdeutschen Bundestags–Ausschusses, ist es dann auch, der die Debatte am 17. Juni eröffnet mit der Forderung, der „heuchlerischen Wiedervereinigungspolitik“ aller bisherigen Bundesregierungen, die doch nur die West–Integration gewollt hätten, nun „konstruktive Alternativen“ entgegenzusetzen. Durch zuviel Rücksichtnahme auf gute Beziehungen zum DDR–Staat würden die Grünen ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den dortigen Basisbewegungen verspielen. Im Unterschied zu Knabe und Milan Horacek, der vehement auf der „Offenheit der deutschen Frage“ beharrt, sammelt sich die Mehrheit der Fraktion auf einem Minimalkonsens: der Anerkennung zweier deutscher Staaten. Konkrete Forderungen zur politischen Umsetzung der Anerkennungspolitik werden dabei nicht diskutiert: die Auflösung des Ministeriums für innerdeutsche Beziehung, ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz und die Regelung der Elbgrenze - Forderungen aus einem Grundsatzpapier der Vorgänger–Fraktion - sind kein Thema. Stattdessen geht es um die großen Entwürfe einer „mitteleuropäischen Friedenspolitik“ und um die eigene „nationale Befindlichkeit“. Es ist der Tag der „vielbeschworenen Tabu–Brecherei“, wie es Helmut Lippelt spitz formuliert. So fordert Fraktionsmitarbeiter Roland Vogt, die Grünen dürften sich durch die Befangenheit in der Kriegsschuldfrage nicht mehr davon abhalten lassen, „grüne Inhalte auch in die DDR zu transportieren“. Vogt: „Mir schwillt jedesmal der Kamm, wenn ich die Mauer sehe, aber die meisten Grünen empfinden die Mauer nicht mehr als Ärgernis.“ Seine Kollegin Elisabeth Weber bezeichnet Reagans Mauer–Rede als „eines der aufregendsten Dokumente der letzten Zeit“. Die bisherige grüne Politik sei zu ängstlich. „Reagan spielt die deutsche Karte, das müssen wir aufgreifen.“ Eckart Stratmann bekennt sich dazu, gegenüber der DDR andere gefühlsmäßige Bindungen zu spüren als zum Beispiel gegenüber Österreich, und fragt: „Warum machen wir keine praktische Politik mit Mauer weg? Wir überlassen es Reagan, die Menschen rechtsfrage zu aktualisieren.“ Unter dem Eindruck der Entwicklung in der Sowjetunion und der Abrüstungsdebatte sehen viele Bonner Grüne eine Zeit des Tauwetters herannahen, die den grünen Konzepten von blockübergreifender oder blockauflösender Politik eine aktuelle Bedeutung verleihen würde. Hubert Kleinert hatte am Vortag, als es um die Einschätzung Gorbatschows ging, gar eine „Konvergenz der Systeme“ ausgemacht, die einer Blocküberwindung erstmals die „Konturen realer historischer Möglichkeiten“ verleihe. Obwohl als Beleg für das Aufeinanderzubewegen der Systeme nur eine sowjetische Entwicklung zur Marktwirtschaft genannt wird, müsse, so Kleinert, jeder Schritt zu mehr Ost–West–Kooperation gefördert werden. Die „linksradikale Kritik“ am realen Sozialismus sei damit historisch überholt. Auf den Prüfstand gerät erwartungsgemäß auch die grüne Position zum NATO–Austritt. Bereits seit Wochen kursiert ein Papier der Abgeordneten Karitas Hensel und ihres Mitarbeiters Jürgen Schnappertz über den „Bumerang der Anti–Nato–Haltung der Grünen“. Die NATO habe bei ihrer Gründung und auch heute noch die Funktion, deutschen Militarismus und deutsches Großmachtstreben einzudämmen. Die Austrittsforderung sei von „beispielloser Naivität“, denn im Falle des Austritts gebe es nur die Alternativen: reaktionäre Nationalbewegung in der BRD oder Schutzmachtwechsel zur Sowjetunion. In der Debatte spitzt es Schnappertz zu: „Wir können von Glück sagen, daß es diese West–Integration gegeben hat. Sie war unvermeidlich und notwendig.“ Neben Zustimmung von Otto Schily erntet Schnappertz viel Protest, doch unbestritten scheint auch unter den AnhängerInnen der Austritts– Forderung, daß ein Handlungskonzept zur Umsetzung fehlt. Christa Nickels denkt laut über eine „mitteleuropäische UNO“ nach. Nur Helmut Lippelt verweist darauf, daß ein Austritt real in den nächsten fünf bis zehn Jahren kaum anstehe und die Grünen auch bisher ihre Position den WählerInnen anhand konkreter, einseitiger Abrüstungsschritte vermittelt hätten. Lippelt: „Als radikal–pazifistische Partei können wir diese Haltung durchstehen.“ Spontane Zurufe: „Aber nur solange wir keine Macht haben.“

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