■ Grüne im Sturzflug: Die rot-grünen Träume sind erst mal geplatzt. Die Partei ist zum Opfer ihrer eigenen Selbstüberschätzung geworden: Der Preis der Macht
Wer ist Halo Seibold? Vor zwei Wochen hätten auch Kenner der Bündnisgrünen Mühe gehabt, den Namen richtig einzuordnen. Jetzt kennt die ganze Republik die Frau, die uns nach dem Autofahren auch noch den Urlaub vermiesen will. „Mallorca auf Bezugsschein“, spottete Joschka Fischer über die Forderung, alle fünf Jahre einmal fliegen sei genug, die Halo Seibold publikumswirksam am Samstag vor den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein unter die Leute brachte.
Doch die Nation lachte nicht mit. Ein Sturm der Entrüstung brach über die Grünen herein, das Volk reagierte, als müßte es sich endlich aus langem Leiden unter einer Ökodiktatur befreien und ein für allemal feststellen: bis hierhin und nicht weiter. Die Vehemenz der Reaktion ließ nicht nur Seibold blaß werden, die am Tag danach, vollends peinlich, stammelte, leider die Wahlen im Norden – Seibold macht Wahlkampf in Bayern – nicht bedacht zu haben. Und auch der Rest der Grünen schaute dumm aus der Wäsche.
Während die Fraktion gestern noch einmal öffentlichkeitswirksam im Bundestag ihren Dissens in der Außenpolitik zum besten gab, beginnt die Partei die Flagge Fünf- Mark-Benzinsteuer, das Symbol des ökologischen Umbaus der Gesellschaft, langsam, aber sicher einzurollen. Seit Gerhard Schröders Triumph in Niedersachsen bieten die Grünen ein Bild des Jammers. Dabei ist die Talsohle noch längst nicht erreicht. Wenn die Bündnisgrünen am 26. April aus dem Landtag von Sachsen-Anhalt geflogen sein werden und auch der letzte Lokaljournalist im Schwarzwald die Erkenntnis verbreitet, daß die Grünen im Osten nie angekommen sind, wird das Ausmaß des Desasters klar sein: Die Partei bangt um ihren Wiedereinzug in den Bundestag.
Als Erklärung muß jetzt die mangelhafte mediale Vermittlung der grünen Forderungen herhalten. Kommunikationsdefizite, PR- Pannen, schlechtes Timing – was immer PolitikerInnen so erzählen, wenn sie ihr Tun nicht angemessen gewürdigt sehen. Tatsächlich geht es um etwas ganz anderes: Die Bündnisgrünen wissen noch nicht, was „the price of power“ bedeutet. Jetzt rächt sich, daß es in der Partei im letzten Jahr keine Debatte darüber gegeben hat, was es bedeutet, in der ökonomischen und politischen Situation des Jahres 1998 ernsthaft eine Regierungsbeteiligung anzustreben. Statt sich darüber klar zu werden, wie bitter wenig die Grünen in einer SPD-geführten Bundesregierung bewirken könnten, wurde auf dem Parteitag in Kassel, dem Startschuß zum Wahlkampf, ein Hochamt grüner Sebstbeweihräucherung gefeiert. Wir können uns vor der Verantwortung nicht drücken, wir dürfen vor den Problemen der Gesellschaft nicht zurückweichen, man kann sich den Zeitpunkt, zu dem man sich an der Praxis zu messen hat, nun mal nicht aussuchen, ohne uns wird es keinen Politikwechsel geben – jede Menge Phrasen und, wie zu befürchten war, die allerwenigsten wußten, was sie eigentlich daherreden.
Solange die SPD noch die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit mit ihrer Kandidatenkür absorbierte, solange eine grüne Regierungsbeteiligung weitenteils nur als vage Möglichkeit unterhalb der Schwelle ernsthafter Realisierungschancen gesehen wurde, durften die Grünen ungestraft von ihrer zukünftigen Bedeutung träumen und wohlmeindende mediale Streicheleinheiten genießen. Seit Niedersachsen ist die Partei plötzlich mit dem Ernstfall konfrontiert. Mit einem Schlag war klar, daß die Grünen den Preis der Macht weit vor dem Ziel zu zahlen haben.
Eine Woche nach Niedersachsen, auf dem Parteitag in Magdeburg, zeigte sich, daß weder die Delegierten noch die Parteiführung ahnte, was ihnen bevorstand. Obwohl seit einer Woche dank des Schröderschen Triumphs aus der vagen Möglichkeit einer rot-grünen Regierung für viele eine reale Drohung geworden war, machten die Grünen business as usual. Nichts Aufregendes im Vergleich zu früheren Parteitagen, doch das zählte nicht mehr. Jetzt gilt ein anderer Maßstab.
Plötzlich liegt das grüne Kind im „randvoll mit Fünfmarkstücken gefüllten Ökobrunnnen“, wie allerorts hämisch angemerkt wird, und muß schmerzhaft lernen, daß Ökologie in der bundesdeutschen Gesellschaft 1998 nicht viel zählt. Plötzlich wirkt die grüne Bosnien- Debatte, die vor Jahren noch als gesellschaftlich stilbildend galt, wie pure Bigotterie – denn die Entwicklung ist nun einmal weitergegangen, die Nato steht in Exjugoslawien, und es wird nicht mehr geschossen. So einfach ist Politik im Einzugsbereich der Macht. Und auch die Erkenntnis, daß die Nato- Osterweiterung zuallererst Herrschaftspolitik und nur im Glücksfall auch Friedenssicherungspolitik ist, hilft im Wahlkampf und in der Regierung nicht weiter – die Entwicklung ist längst gelaufen, und nun noch bundesdeutsch-grüne Vorbehalte in die internationale Arena einzubringen, schafft nichts anderes als Verunsicherung.
Das alles hätte man auch im Herbst 1997 wissen können, aber die Partei wollte es nicht wissen. Sie wollte mitregieren, und zwar über alle Flügeldifferenzen hinweg. Jetzt sitzt sie nicht in der Ökofalle, sondern in der Falle ihrer eigenen Selbstüberschätzung. Da alle Beteiligten weiterhin beteuern, sie wollten aber trotzdem mitregieren, müssen sie entweder bereit sein, wirklich Konsequenzen zu ziehen, oder sie werden sich endgültig lächerlich machen.
Die Bündnisgrünen sind eine Sieben-Prozent-Partei im Westen des Landes, die aus der Opposition heraus provokante, kluge oder weniger kluge Anstöße für die gesellschaftliche Auseinandersetzung geben kann. Als Regierungspartei sind sie zuallererst Mehrheitsbeschaffer für die SPD, wenn und solange sie dafür gebraucht werden.
Die Mehrheit der Deutschen will vielleicht eine neue Regierung, aber sie will keinen Politikwechsel. Sie will keinen Öko-Schnickschnack, keine Menschenrechtspolitik, die womöglich etwas kostet, keine Experimente, sondern sie will eine möglichst weitgehende soziale Absicherung, wenn möglich für alle (Deutschen, selbstverständlich). Sie will diese Absicherung so dringend, daß Frau Noelle- Neumann schon befürchtet, der Staatssozialismus siegt von hinten durch die Brust ins Auge. Und wenn die Grünen nicht versichern, genau das liege ihnen auch am Herzen, können sie gleich nach „Drüben“ gehen.
Das ist der Preis der Macht. Wenn die Grünen im Juni ihr angekündigtes, konzentriertes Programm vorlegen werden, werden wir wissen, ob sie bereit sind, diesen Preis zu zahlen. Jürgen Gottschlich
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