: Grottengrandios
Rot-Weiß Essen im DFB-Pokalfinale ■ Aus Essen Bernd Müllender
Die Fans wollten nach dem 2:0 im Halbfinale des DFB-Pokals gegen Tennis Borussia gar nicht mehr aufhören, das obligate „Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin“ donnernd in den Abendhimmel zu skandieren. In der Essener Kabine bat Trainer Wolfgang Frank, ein anstudierter Theologe, derweil um eine Schweigeminute: „Jungs, denkt mal einen Moment still nach. Ihr habt heute abend Fußballgeschichte geschrieben.“ Ein Zweitligist und potentieller Absteiger im Finale. Und wenn Dynamo Dresden gestern abend (nach Redaktionsschluß) sein zweites Halbfinale gegen Werder Bremen gewonnen haben sollte, wäre man automatisch im Europapokal, da Skandalklub Dynamo sich nicht nur mit einem Vierpunkte-Minus durch die Saison kämpft, sondern wegen der Zuschauerausschreitungen 1991 international gesperrt ist.
Verständliche Euphorie, die sich dem neutralen Beobachter nur teilweise erschließen konnte. Es spielten zwei Zweitligisten, die in ihrer Liga auf einem Abstiegsplatz stehen und sich irgendwie in dieses Halbfinale gemogelt hatten. Die dargebrachten fußballerischen Leistungen einfach schlecht zu nennen, wäre Schönfärberei. Ein einzig grauenvoll grottenschlechtes Gestolpere, Gekicke, Gebolze. Und zum Schluß Realsatire: Als RWE sicher 2:0 führte und TeBe, obwohl schon dezimiert durch den Platzverweis des Ex-Kaiserslauterers Thomas Vogel wegen Nachtretens, alle Mann nach vorne beorderte, hatten die Essener Konterchancen im Minutentakt, die unsäglich jämmerlich verstolpert, verhaspelt und verkaspert wurden.
Rot-Weiß Essen war sich von Anfang an seiner beschränkten Mittel bewußt und bevorzugte die rustikale Gangart mit reichlich Körpereinsatz, Kampfeslust und den üblichen Branchenmitteln Blutgrätsche und Sensenfoul im rechten Moment. TeBe, das Berliner Kunstprodukt aus fast einem Dutzend abgehalfterter Ex-Stars der ersten und zweiten Liga, versuchte sich in Schönspielerei mit einer inflationären Zahl offensiver Kräfte. Was schiefgehen mußte bei fehlender kämpferischer Grundleidenschaft. Da halfen am Internationalen Frauentag auch die drei lilafarbenen TeBe-Transparente der rund 30 Berliner Fans nichts.
Tennis Borussia, zusammengekauft mit den Millionen des Schlagerproduzenten Jack White, ist teure Erfolglosigkeit, eine Art Borussia Dortmund auf niedrigem Niveau und nur deshalb in der zweiten Liga und damit im Pokal- Wettbewerb, weil Union Berlin gemauschelt haben sollte und vom DFB ausgeschlossen worden war. Ein Tribünenbesucher erklärte TeBes Tristesse physikalisch: „Mit so viel Kohle inne Taschen könnt ich au nich schnella laufen.“ Trainer Wolfgang Sidka meinte, er habe bei einigen aus seiner Elf „das Selbstbewußtsein vermißt“. Er kann nur elf von elf gemeint haben. Einer davon Andreas Keim, fünffacher Rekordabsteiger, für den die Niederlage nur die konsequente Fortsetzung seiner beeindruckenden Verlierer-Karriere war.
Rot-Weiß im Freudentaumel – aber Gewinner des Spiels ist der DFB. Im Streit um die Ligalizenz für das nächste Jahr haben seine Gremien und Rot-Weiß noch bis zum 15. März Zeit, sich über einen Kompromiß zu einigen. Der Lizenzentzug war, so Essens Anwalt Rauball, „gespickt mit Fehlern“: reichlich peinliche Formmängel und Verstöße gegen die Verfahrensordnung. Im Moment im Gespräch ist ein Vierpunkteabzug in der laufenden Saison plus auszuhandelnder sechsstelliger Geldstrafe. Die wird jetzt, mit der lukrativen Finalteilnahme, deutlich höher ausfallen. Der Fußballbund also als automatischer Gerichtsvollzieher an der Hafenstraße. Schon der Schiedsrichter konnte kein Unparteiischer sein, sondern eine Art schwarzer Formfehler. Bei Flutlicht betrachtet waren die Transparente Fehlurteile: „Keine Macht dem DFB“ und „DFB – Doping, Fehlurteile, Blamagen“.
Der DFB profitiert erst recht, wenn gestern nacht in Dresden der große Traum wahr wurde: Ein Zweitligist im Europacup. Gegen Real Madrid oder Juventus Turin an der Hafenstraße, da, wo einst der große Helmut Rahn bombte, dessen Berner Siegtor vor genau 40 Jahren den Weltmeistertitel... Nicht wenige hatten am Dienstag Tränen der Rührung in den Augen. Oh, RWE...! Und selbst ein Bremer Sieg ließe alle Chancen, wurde kühn spekuliert: Werder wird Deutscher Meister oder Champions-League-Sieger, oder Rot-Weiß gewinnt einfach das Endspiel. Grottengrandiose Aussichten! Oder grottengroteske: Die Lizenz wird immer teurer, der Abstieg mit Punktabzug sportlich unvermeidlich, und im Europacup gibt es als Regionalligist das schnelle Aus gegen Jeunesse Esch oder OFI Kreta...
Auf den Rängen wehte einsam das Transparent „Erwin Kostedde lebt“. Und Essens Zweitliga-Philosoph Jürgen Wegmann, derzeit kreuzbändergerissener Langzeitrekonvaleszent, bekannte selig als neuer Swami Kohlenpott-Kobra: „Ich fühle mich ganz wunderbar im Hier und Jetzt.“ Grottenglückliches Rot-Weiß! Noch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen