Großkoalitionäre in Wahlkampfzeiten: Pöbeln, streiten, schimpfen
Die Kanzlerin weiß nicht, wie sie auf den gesellschaftlichen Linkstrend reagieren soll: mit oder ohne Mindestlohn? In Hessen tobt darum symbolhaft ein Richtungswahlkampf.
BERLIN taz Kann sich noch jemand an den Rücktritt von Franz Müntefering erinnern? Nein? Macht nichts, er liegt ja auch schon gefühlte zehn Jahre zurück. Damals, im November 2007, sprachen fast alle Medien vom drohenden Ende der großen Koalition. Sie deuteten den Rückzug des Vizekanzlers als Zeichen des Untergangs. Anschließend machte die Regierung einfach weiter wie bisher - stets krisenanfällig und dennoch routiniert.
Mitte Januar 2008 scheint die Lage für die Koalition wieder einmal dramatisch zu sein. Die Stimmung zwischen den Partnern ist auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Im Wahlkampf nimmt niemand mehr Rücksicht auf den anderen; Merkel nicht auf Beck, Beck nicht auf Koch, Koch nicht auf Steinmeier, Steinmeier nicht auf Merkel. Sie pöbeln, sie streiten, sie schimpfen. Es scheint, als habe der hessische Ministerpräsident Roland Koch mit seiner Kampagne gegen "kriminelle Ausländer" nicht nur die Vernunft hinweggefegt, sondern auch die Reste gegenseitigen Vertrauens in der Koalition.
Die Berliner Erregungsmaschine läuft auf Hochtouren. In der Regierung, in der Opposition, in den Medien - überall wachsen die Zweifel, ob die Union und die SPD nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 27. Januar gemeinsam regieren können. Alle fragen sich: Wie lange soll das mit dieser Regierung gut gehen?
Die Antwort ist die gleiche wie nach dem Müntefering-Rücktritt: bis zur Bundestagswahl 2009. Möglicherweise sogar darüber hinaus.
Genau diese Botschaft wird Angela Merkel an diesem Dienstag verkünden, wenn sie vor die Bundespressekonferenz in Berlin tritt. Wahlkampf ist Wahlkampf, wird sie sagen, da gehe es hart zur Sache, aber das beeinträchtige doch nicht die Arbeit der Bundesregierung. Sie wird allgemein zur Vernunft aufrufen und gleichzeitig die Forderungen ihrer Partei wiederholen. Erst gestern stellte das CDU-Präsidium der SPD ein Ultimatum zur Verschärfung des Jugendstrafrechts: Bis zum 27. Januar sollten die Sozialdemokraten deutlich machen, ob sie gesetzliche Verschärfungen mittragen.
Man kann es auch so sehen: Politik ist ein Teil der Unterhaltungsbranche geworden. Da gehört die inszenierte Aufregung geradezu zwanghaft dazu. Da muss man heute nicht alles so ernst nehmen, was gestern gesagt worden ist. Jürgen Klinsmann wird schließlich auch Trainer des FC Bayern München, obwohl er mit Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge jahrelang über Kreuz lag. Und die große Koalition wird sich nach den Wahlen in Hessen, Niedersachsen und Ende Februar in Hamburg schon wieder einkriegen. Was bleibt ihr auch anderes übrig? So stark, dass sie das Bündnis aufkündigen könnte, ist die Union nicht. Und so verzweifelt, dass sie sich freiwillig in die Opposition begibt, ist die SPD auch noch nicht. Die Partner bleiben aneinander gefesselt.
Viel interessanter ist die Frage, wie sie regieren werden. In dem besinnungslosen Aufeinandereinschlagen geht ja ein wenig unter, dass gerade in Hessen eine Art Richtungswahl stattfindet: Hier - und nicht in Niedersachsen oder Hamburg - kämpft symbolhaft ein konservativer Hardliner gegen den Linkstrend der Gesellschaft. Kochs aufgeladene Kampagne gegen die Jugendkriminalität ist nichts anderes als der Versuch der Union, der SPD das Thema soziale Gerechtigkeit zu entreißen und sie auf ein anderes, "konservatives" Feld zu zwingen. Innere Sicherheit gegen Mindestlohn.
Weder CDU und CSU noch die SPD wissen zurzeit, wie dieser Kampf ausgehen wird. Gerade das macht die Parteien so nervös. Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass sie alle Hemmungen fallen lassen. Es geht um viel - um mehr als nur Hessen und die Frage, wie man die Jugendkriminalität am wirksamsten bekämpft.
In dieser Frage um das große Ganze macht die Kanzlerin das, was sie am besten kann: Sie wartet ab. Sie laviert. Sie macht einen Schritt nach links und einen nach rechts. Sie wettert gegen überzogene Einkommen von Managern und folgt Koch bereitwillig in eine Kampagne, die mit ausländerfeindlichen Stimmungen spielt. Merkel ist stark und schwach zugleich.
Sie weiß nicht, wie sie auf den gesellschaftlichen Trend reagieren soll. Mitte Dezember ist die Kanzlerin von einer Umfrage in der FAZ aufgeschreckt worden: Nur noch 15 Prozent der Deutschen sehen die wirtschaftlichen Verhältnisse als gerecht; 56 Prozent empfinden sie als ungerecht. "Glauben Sie nicht, dass die Politik an so etwas einfach wortlos vorbeigehen kann", sagte Merkel daraufhin beim Arbeitgebertag den versammelten Unternehmern. "Das müssen wir gemeinsam ändern."
Aber wie? Mit oder ohne allgemeinen Mindestlohn? Gerade von Kochs Ergebnis wird die Antwort abhängen. Dann wird die große Koalition wieder regieren - müssen.
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