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Große Pläne für die Zukunft

Die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt Kiel hat den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2021 in der Kategorie Großstädte bekommen. Auf den ersten Blick war das nicht unbedingt naheliegend

Kiel wurde als Autostadt geplant – entsprechend aufwendig ist es für Fußgänger, über den quer durch die Stadt laufenden Theodor-Heuss-Ring zu gelangen

Aus Kiel Gernot Knödler (Text und Fotos)

Wer wissen will, warum Kiel keinen guten Ruf hat, braucht sich nur an den Theodor-Heuss-Ring zu stellen. An der sechsspurigen Bundesstraße, die mitten durch die Stadt führt, steht ein hüfthoher grauer Würfel mit der Aufschrift „Luftmessstation“. Auf Höhe der Liebfrauenkirche liefert er in schöner Regelmäßigkeit Stickoxidwerte, die die Kieler Politik schier zum Verzweifeln bringen.

Das ist nicht die einzige Negativschlagzeile, die die Stadt in den vergangenen Jahren geliefert hat. Da war der Streit um ein großes Möbelhaus im Kleingartengebiet, das Gezerre um die Stadtbahn und die Proteste gegen den Kreuzfahrttourismus. Trotzdem ist Kiel Anfang vergangener Woche der Deutsche Nachhaltigkeitspreis 2021 für Großstädte zuerkannt worden. Dabei hat Kiel sich gegen eine zweistellige Zahl an Mitbewerbern wie Stuttgart und München durchgesetzt. „Wie diese Auszeichnung vergeben werden konnte an Kiel, ist uns ein Rätsel“, sagt Hartmut Rudolphi vom Kieler Naturschutzbund (Nabu).

Begründet hat die Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis ihre Entscheidung mit einer Reihe von Versprechen, die die Stadt abgegeben hat und ein paar konkreten Projekten – wobei die detaillierte Begründung noch aussteht. „Natürlich sind wir stolz und finden, wir haben das verdient“, sagt Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD). „Gleichwohl ist Kiel keine nachhaltige Stadt“, räumt er ein.

Am Heuss-Ring ist das besonders augenfällig. Mehr als 90.000 Autos fahren täglich an der Messstelle vorbei – so viel wie auf den am stärksten befahrenen Autobahnen des Landes. Direkt an der Straße stehen auf der einen Seite vierstöckige Mietshäuser, auf der anderen Einfamilienhäuser mit Vorgärten. Erst vor zwei Monaten hat das Oberverwaltungsgericht wegen der hohen Stickoxidwerte hier den Luftreinhalteplan der Stadt verworfen.

Dabei hatten OB Kämpfer und seine Verwaltung zu einer unorthodoxen Maßnahme gegriffen. Unweit der Messstation platzieren sie seine Luftreinigungsanlage. Der Riesensauger im Container filtert nach Herstellerangaben 85 Prozent aller Schadstoffe aus der Luft. Nach einem ersten Test wurde das Gerät wieder weggefahren. Die Stadt geht davon aus, dass das Gerät als Teil einer „Maßnahmenkaskade“ seinen Zweck erfüllt. Im Oktober soll der Regelbetrieb mit sechs Containern beginnen.

Kiels Stickoxidproblem ärgert zwar die Deutsche Umwelthilfe, die Kiel deswegen ja vor Gericht gebracht hat, die Jury des Deutschen Nachhaltigkeitspreises scheint es aber nicht zu stören. Sie lobt, dass Kämpfer und Stadtpräsident Hans-Werner Tovar (SPD), der Vorsitzende der Ratsversammlung, 2017 Kiel zur Agenda-2030-Kommune erklärt haben. Damit bekannten sie sich zu den sozialen Entwicklungszielen (Social Development Goals) der Vereinten Nationen.

Seit 1995 ist Kiel Klimaschutzstadt, 2017 hat die Ratsversammlung eine Klimaschutzstrategie beschlossen, 2019 hat die Kommune den Klimanotstand ausgerufen, der die Umsetzung der Strategie beschleunigen soll. Ziel des „Masterplanes 100 Prozent Klimaschutz“ ist es, den Ausstoß an Treibhausgasen wie CO2 bis spätestens 2050 um 95 Prozent gegenüber 1990 zu verringern. Das Zwischenziel – minus 40 Prozent bis 2020 – werde Kiel wohl erreichen, sagt Oberbürgermeister Kämpfer.

Dazu trägt bei, dass 2019 das Küstenkraftwerk auf der Ostseite der Kieler Förde in Betrieb genommen wurde. Die Jury hat gewürdigt, dass es 70 Prozent weniger CO2 ausstößt als das Vorgängerkraftwerk. Es kombiniert die sehr effiziente Gas- und Wärmeproduktion durch Gasmotoren mit einem 60 Meter hohen Heizkessel. Beides dient dazu, die schwankende Leistung von Wind- und Sonnenenergie zu puffern: Liefern sie zu wenig Strom, springen die Motoren an. Kommt zu viel Strom, wird der Kessel beheizt und somit Fernwärme erzeugt.

Ebenfalls lobend erwähnt die Jury das KIärwerk Bülk an der Mündung der Förde, das demnächst CO2-frei arbeiten wird. Beinahe fertig ist eine zweite Landstromanlage am Ostseekai, die zu 100 Prozent mit Ökostrom gespeist werden soll. Verträge mit den Reedereien, die sich Kämpfer zufolge verpflichtet haben, ihre modernsten Schiffe nach Kiel zu schicken, sollen sicherstellen, dass sich die 15-Millionen-Euro-Investition auch lohnt.

„Kreuzfahrer sind ein schönes Thema“, findet Kämpfer. „Wenn man sie aussperrt, sind die halt in Hamburg oder Rostock.“ Kiel wolle stattdessen der ökologischste Hafen Europas werden und strebe ein Bündnis mit anderen Häfen an, um Umweltdumping zu verhindern. Ein Kreuzfahrtschiff, das sein Antriebsproblem gelöst habe, sei auch nicht umweltschädlicher als ein Urlaub auf der Finca in Mallorca. Andere sehen das weniger entspannt und machen Druck: Im Juni vergangenen Jahres hinderten Klimaaktivisten mit Schlauchbooten das Kreuzfahrtschiff „MS Zuiderdam“ am Auslaufen.

Politik und Verwaltung produzierten zwar eine Menge heiße Luft, sagt der Nabu-Vorsitzende Rudolphi, „aber wenn es um konkrete Stadtplanung geht, werden andere Beschlüsse gefasst“. Rudolphi verweist auf den Wohnbauflächenatlas, der über die Stadt verstreut Baumöglichkeiten ausweist – aus Rudolphis Sicht oft zu Lasten der Lebensqualität derer, die dort schon wohnen.

Viel von dem Inneren der beiden Grüngürtel Kiels sei in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden, beklagt Rudolphi und verweist auf die Ansiedlung eines Möbelhauses als prominentestes Beispiel – die allerdings durch einen Bürgerentscheid abgesegnet wurde.

Einer der größten anstehenden Konflikte der nächsten Jahre ist die Frage eines Anschlusses für die Autobahn A 21 und ob dafür eine Verbindung zwischen den Bundesstraßen 404 und 76 gebaut werden soll, die wiederum durchs Kleingartengebiet führen würde.

Neun Umweltverbände haben sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen diese Südspange gewandt: Kiels grüne Lunge dürfe nicht weiter zerschnitten werden, heißt es darin. Auch sozialpolitisch sei das eine Katastrophe, weil Naherholungsgebiete wegfielen und die Verkehrsbelastung in bestimmten Quartieren wachse. Der Rat dürfe die Gestaltung nicht einfach dem Bund überlassen, der für die Planung zuständig ist, so die Verbände.

„Als OB muss ich damit rechnen, dass der Verkehr an der Stadtgrenze ankommt“, sagt Kämpfer, der bei Robert Habeck (Grüne) Staatssekretär im schleswig-holsteinischen Umweltministerium war. Typisch für das Thema Nachhaltigkeit sei eben das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen. „Die Südspange wäre unter dem Aspekt des Verkehrs am besten“, sagt Kämpfer, „ökologisch am schlechtesten.“

Ein ähnliches Spannungsverhältnis gibt es zwischen dem Flächenverbrauch und dem Wohnungsbau. Kämpfer hält die Verdichtung der inneren Stadt für sinnvoll, weil dann die Wege kurz seien. Auch könne so die bestehende Infrastruktur genutzt werden. Dabei zieht die Stadt größere Areale in der ländlichen Peripherie zumindest in Erwägung. Ein unproblematisches, höchst attraktives Beispiel ist das ehemalige Marinefliegergelände in Holtenau Ost zwischen dem weitgehend inaktiven Flughafen und der Förde. Das Militär hat kleine Ziegelhäuser, Holzbaracken und einen Hangar hinterlassen. Das Gelände ist teilweise für das Publikum geöffnet.

Unterm Dach einer ehemaligen Fahrzeughalle skaten drei Jungs in einer Halfpipe. Radler haben die für Autofahrer gesperrte Straße direkt an der Förde entdeckt und auch die Polizei nimmt hier mit Tatütata den direkten Weg. Am Rande der langsam aufbrechenden Piste stehen Bänke mit Blick auf die Förde. Das könnte eine Premium-Wohnlage werden.

Nabu-Chef Rudolphi findet, dass schon zu viel Premium gebaut wurde. Das gehe am Bedarf der weniger gut verdienenden Bevölkerung vorbei. OB Kämpfer verweist darauf, dass die Stadt, wo sie Einfluss habe, darauf bestehe, dass ein Drittel Sozialwohnungen gebaut würden.

Max Dregelies, dem umweltpolitischen Sprecher der SPD-Ratsfraktion, fällt beim Thema nachhaltiger Städtebau die ehemalige „Holstenbrücke“ zwischen der Förde und dem Kleinen Kiel ein. Unter dem Kampagnentitel „Kleiner Kielkanal“ entstand hier anstelle einer vierspurigen Straße ein Fleet mit Treppen und Sitzbänken an der Seite und höher gelegenen, mit Gräsern bepflanzten Becken, die das Wasser reinigen. Am Donnerstag wurde es vom Oberbürgermeister offiziell dem Publikum übergeben.

Der Kanal, vor dem der SPD-Politiker Max Gregelies steht, war mal eine vierspurige Straße

„Wenn es ein Projekt gab, das viel Mut brauchte und viel Ärger verursacht hat, war es das“, sagt Dregelies, der das Projekt auch als Vorsitzender des Ortsbeirats begleitet hat. Die Angst, aus dem Kanal könnte eine stinkende Kloake werden und die Frage „Wohin mit dem Autoverkehr?“ ließen sich durch ein Bürgerbeteiligungsbüro vor Ort ausräumen – und weil die Kaufmannschaft die Veränderung unterstützte.

Statt der Autospuren gibt es jetzt eine blass quergestreifte Fahrbahn für Busse und Radler auf der einen und eine Promenade an der anderen Seite. In die Geschäftshäuser am Platz wird wieder investiert. „Partizipationsangebote zum Beispiel über Ortsbeiräte“, wie sie die Jury des Nachhaltigkeitspreises lobend erwähnt, sind zwar kein Alleinstellungsmerkmal Kiels, können aber wohl als Partnerschaften zum Erreichen der Ziele im Sinne der UN gelten.

Dregelies ist auch Vorsitzender des Kieler Fahrradforums, eines Beirats aus Vertretern von Politik, Verwaltung und Verbänden. Sein Stolz ist die Veloroute 10, gut erkennbar an den verschiedenfarbigen Brücken, unter denen man auf den Einfallstraßen durchfährt. „Das ist unsere Premium-Veloroute“, sagt Dregelies.

Die Route ist vier Meter breit, asphaltiert und verläuft sauber getrennt vom Autoverkehr auf einer ehemaligen Bahntrasse. Täglich benutzten 3.000 Radler die Route, sagt Dregelies. Als nächstes kämen komfortable Auffahrtrampen dazu. Wegen ihrer Beliebtheit siedele sich sogar Gewerbe an der Trasse an.

Dregelies ist davon begeistert, wie viel sich in Kiel beim Radverkehr bewege. Aus Sicht der Verkehrsverbände ADFC und VCD könnte sich in der Landeshauptstadt allerdings wesentlich mehr tun. Eine Möglichkeit, rasch voranzukommen, wäre es, im großen Stil Fahrradspuren mit Pollern von Autofahrbahnen abzutrennen, also sogenannte Protected Bike Lanes einzurichten. Oberbürgermeister Kämpfer, der nach eigener Aussage „selber nie Auto gefahren ist“, weist darauf hin, dass er die Investitionen für den Radverkehr von 18 auf 30 Euro pro Einwohner erhöht habe.

„Kiel ist eine Autostadt und das macht uns große Probleme“, räumt Jessica Kordouni, die Fraktionschefin der Grünen, ein. Das Bussystem operiere an seiner Kapazitätsgrenze. Deshalb hat der Rat eine Studie in Auftrag gegeben, wie ein effizientes und leistungsfähiges Nahverkehrssystem der Zukunft aussehen könnte. Aus Sicht von SPD und Grünen kann eigentlich nur die Stadtbahn dabei herauskommen.

Offizielles Ziel ist es, den Autoverkehr bis 2030 um 40 Prozent zu verringern. Das wäre jedenfalls nachhaltig.

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