: „Großbritannien ist eine multiethnische Gesellschaft“
Der britische Rechtsextremismusexperte Matthew Feldman warnt: Rechtsextreme nutzen lokale Ängste gezielt zur Mobilisierung gegen Geflüchtete
Interview Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
taz: Herr Feldman, vor einem Jahr erlebte Großbritannien massive Unruhen, nachdem ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund drei Mädchen mit einem Messer getötet hatte. Rechte Aktivisten wiegelten Proteste vor Flüchtlingsunterkünften auf, mobilisierten massiv in sozialen Medien. Es gab zahlreiche Gerichtsverfahren mit teils hohen Strafen. Ein Jahr später gibt es wieder solche Proteste. Wie kann das sein?
Matthew Feldman: Es gibt eine Facebook-Gruppe namens „Epping Says No“, die zu den Protesten gegen eine Flüchtlingsunterkunft in Epping mobilisiert hat. Diese Seite hat Administratoren von einer Gruppe namens „Homeland Party“, vergleichbar mit der NPD in Deutschland. Menschen vor Ort haben Sorgen – das nutzen rechtsextreme Aktivisten als Trigger. Hotels in kleinen Ortschaften, in denen Migranten untergebracht werden, vor allem große Zahlen alleinstehender junger Männer, sind wie Blut im Wasser für rechtsextreme Haifische. In England wie in Deutschland oder den USA suchen Rechtsextreme ein Mainstreamthema, an das sie andocken können. So war das vor einem Jahr und so ist es heute wieder.
taz: Vor einem Jahr hat Keir Starmer durchgegriffen …
Feldman: Ja, und als ehemaliger Generalstaatsanwalt weiß er, wie die Justiz funktioniert und wie man sie beschleunigt. Das half, die Unruhen einzudämmen. Jetzt müssen wir sehen, ob das wieder so läuft. Je mehr Orte von Protesten betroffen sind, desto überforderter ist die Polizei und desto größer das Risiko von Unruhen.
taz: Heute ist auch die rechtspopulistische Partei Reform UKvon Nigel Farage viel stärker als vor einem Jahr. Wie wirkt sich das aus?
Feldman: Es gibt zwei mögliche Einschätzungen von Nigel Farage. Eine ist, dass er selbst ein Rechtsextremist ist und auf der Welle reitet. Er selbst sagt aber, er habe die Rechtsextremisten in die Schranken gewiesen; er meint damit die organisierten, gewaltbereiten Rechtsextremisten. Man mag es als Propaganda abtun, doch in einem Punkt hat er recht: Rechtsextremisten wie Tommy Robinson wollten sich Reform UK anschließen – doch Farage machte klar, dass solche Leute in seiner Partei nichts zu suchen haben. Es gibt eine klare Trennlinie zwischen rechter Parteipolitik, die auf Wahlerfolge abzielt, und rechter Straßenkonfrontation – und Farage zieht diese Linie mit deutlicher Schärfe.
taz: Aber gleichzeitig hält er das Thema Migration am Laufen, mit dem die Rechten mobilisieren.
Feldman: Absolut. Farage sieht das Thema Migration ähnlich wie früher das Thema Brexit als Gewinnerthema für sich selbst. Mir wäre es lieber, die Trennlinie zur extremen Rechten läge etwas mehr in der Mitte. Aber es ist gut, dass sie überhaupt gezogen wird.
taz: Wie kann Protest vor Flüchtlingsunterkünften gestoppt werden?
Feldman: In einer demokratischen Gesellschaft kann man das nicht stoppen. Man kann Polizeischutz hinstellen, aber man kann nicht verbieten, dass sich jemand mit einem Plakat hinstellt und sagt, das ist meine Meinung.
taz: Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?
Feldman: Seit zehn Jahren erlebt dieses Land einen Nervenzusammenbruch wegen des Brexits. Dieser hat dazu geführt, dass weniger Europäer nach Großbritannien kommen – dafür aber deutlich mehr Zuwanderer aus anderen Teilen der Welt. Die Regierung kann keine Bootsflüchtlinge mehr nach Frankreich zurückschicken und sie hat sehr wenig finanziellen Spielraum. Wenn in Epping 80 Pfund (95 Euro) pro Nacht für eine Hotelunterkunft für Flüchtlinge bezahlt werden, fehlt der Gemeinde dieses Geld woanders. Die Leute können ja rechnen und sie haben auch ein Gedächtnis. Es gibt diese Proteste nicht im luftleeren Raum, sondern vor allem dort, wo es den Menschen früher besser ging, also nicht so sehr in links tendierenden Großstädten. Ich würde mir wünschen, dass die Regierung da etwas entschlossener auftritt und sagt, dass wir eine inklusive, multiethnische Gesellschaft sind und dass wir das nicht bloß hinnehmen, sondern stolz darauf sind und es stärker in der Gesellschaft verankern wollen. Wir sollten unsere Vorzüge nicht verstecken.
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