Größte Demonstration in CSSR-Hauptstadt seit 1968 / Über 250.000 Menschen auf dem Wenzelsplatz versammelt / Havel stellt „Bürgerforum“ vor / Regierungschef empfing erstmals Oppositionsdelegation / KP-Chef Jakes kündigte begrenzte Reformen an:
Prag (afp) - Zu der größten Kundgebung gegen die Führung des Landes seit dem „Prager Frühling“ haben sich am Mittwoch nachmittag über 250.000 Menschen auf dem Wenzelsplatz in der tschechoslowakischen Hauptstadt versammelt. Zum Auftakt stimmte die Popsängerin Marta Kubisovo zunächst ein Lied aus den Jahren 1968/69 an. Dann stellte der bekannte Dissident und Schriftsteller Vaclav Havel der Menschenmenge über Lautsprecher das neue „Bürgerforum“ zur Koordinierung der Opposition vor.
Bereits am Dienstag hatten über 200.000 Menschen auf dem Wenzelsplatz mehr Demokratie und den Rücktritt von KP-Chef Milos Jakes gefordert. Dieser kündigte in einer Fernsehansprache am Dienstag abend begrenzte Reformen an, verurteilte aber erneut die seit Freitag andauernden Massenkundgebungen und Streiks. Ministerpräsident Ladislav Adamec empfing am Dienstag erstmals eine Delegation von Vertretern der Opposition. Nach der Unterredung mit Adamec hatten Mitglieder der Opposition der versammelten Menschenmenge auf dem Wenzelsplatz über Lautsprechr berichtet, Adamec habe ihnen versichert, die Ordnungskräfte würden nicht mehr gegen Demonstranten vorgehen. Auf seiner ersten offen abgehaltenen Pressekonferenz dementierte das „Bürgerforum“ am Mittwoch den Tod des Studenten Martin Smid bei der am Freitag brutal niedergeknüppelten Massendemonstration. Die Gruppe appellierte ferner an den sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, die Intervention von Truppen des Warschauer Paktes 1968 in der CSSR zu verurteilen, da dies der gegenwärtigen Führung „alle Legitimität“ entziehen würde. Die von der unabhängigen Agentur VIA verbreitete Nachricht vom Tod des Studenten Smid habe sich als falsch erwiesen, hieß es auf der Pressekonferenz des Bürgerforums. Ihr Autor, Petr Uhl, Mitarbeiter der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ und der Agentur VIA, sei „Opfer einer Fehlinformation“ geworden. Uhl befand sich am Mittwoch weiter in Haft. Er wird beschuldigt, durch Verbreiten einer alarmierenden Nachricht den „Interessen der Republik im Ausland“ geschadet zu haben. Über Smids angeblichen Tod war er von einer Freundin des Studenten informiert worden. Ob diese ihn absichtlich oder unwissentlich falsch unterrichtet hatte, konnte das „Bürgerforum“ zunächst nicht sagen. Die Behörden hatten den Tod des Studenten sofort dementiert. Das „Bürgerforum“ forderte Gorbatschow nach eigenen Angaben in einem Brief auf, die „Intervention zu verurteilen“, mit der Truppen des Warschauer Paktes 1968 den „Prager Frühling“ beendet hatten. „Das Schweigen um diese Intervention bedeutet in Wirklichkeit eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei“, betonte das „Bürgerforum“ in dem Brief, der weniger als zwei Wochen vor dem sowjetisch -amerikanischen Gipfel auch an US-Präsident George Bush geschickt wurde.
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