Grime in London: 16 Takte, die die Welt bedeuten
Rapper hatten in Londons Danceszene lange Zeit das Nachsehen. Doch nun haben sich MCs wie Joshua Idehen, Wiley oder Mz Bratt als eigenständige Künstler etabliert.
Englische MCs, das galt lange Zeit als Widerspruch an sich. Im Mutterland moderner Dancemusic waren die Masters und Mistress of Ceremonies Nebendarsteller. Auf den Piratensendern durften sie für ihre DJs die kommende Bassline verkünden, auf Partys die Meute unterhalten. Erst 2004, als Grime aus dem Nichts in den Charts gelandet war, wurde der MC zur Figur, die Dancemusic in einem strengen Ritual nach vorne trieb. 16 Takte hatten die MCs Zeit, das Publikum von ihren Skills zu überzeugen, bevor das Mikrofon zum nächsten wanderte. 16 Takte, die für einige von ihnen den Weg vom Schulschwänzer zum Superstar bedeuteten.
"16 Takte voll abgefahrener Reime können enorm beglückend sein, eine Sequenz aus Metaphern und Versen, die eigenartige Regungen in dir wecken", erzählt Joshua Idehen. Wobei er selber in einer anderen Tradition steht. Idehen kommt aus der Londoner Spoken-Word-Szene, organisiert eine Poetry-Slam-Nacht, spielt in einer Funkband. Und hat kein Verständnis für die Sandkastenschlachten seiner Grime-Kollegen: "Meistens rappe ich über Liebe oder die Conditio humana. Manchmal falle ich in den ,Dichter werden die Welt mit Reimen retten'-Modus, aber daran ist nur meine katholische Erziehung schuld."
Auf "Routes", seinem neuen Album, entstanden zusammen mit den Houseproducern LV, ist auch davon nichts zu hören. Stattdessen porträtiert er London als Großstadt, in der die Dialektik von Euphorie und Erschöpfung niemals schläft. "I feel like I'm beaten" rappt er auf "Lean Back", nur um im nächsten Track genau den Zustand zwischen Übermüdung und Aufgeputschtsein zu verklären, der sich einstellt, wenn man sich vom rasanten Tempo Londons treiben lässt. Ein harter Kontrast, der nur deshalb hervorsticht, weil LV die Mikrodistinktionen von Londoner Dancemusic gut genug kennen, um ihre Fallstricke zu umgehen. Den Ego-Showdown zwischen Produzent/DJ und MCs federn sie ab, indem sie ihre Stücke um die Gesangsspuren Idehens bauen und seine Reime am Rechner dialogisieren und entzerren. So werden Rapsalven zu Soulwolken.
Eigenen Erfolg sabotieren
"Mein Stil ist immer eine Montage aus meinen Lieblingsstilen", erzählt Idehen. Auf "Routes" entspannt sich seine Stimme zwischen den Raps von Grime und Chants von UK Funky mit Betonung auf den feinen Unterschieden. "Northern Line", das seit Monaten in jedem guten DJ-Set einen Platz hat, ist eine Improvisation über die Bahnhöfe der gleichnamigen U-Bahn-Linie von Clapham bis Camden. Jeder Londoner kann sie herunterbeten. Zum Schluss des Tracks dehnt Idehen die Silben, aus der Endhaltestelle Edgware wird "Edgewhere?", ein Ort, den die meisten Londoner nur vom Hörensagen kennen. Idehens London ist dabei fluide, eine Ansammlung an persönlichen Landmarks, die mit jeder Fahrt neu erschlossen wird.
Und damit ist sein London anders als das der Jugendgangs, die sich nach den Postleitzahlen ihrer Wohnungen zusammenschließen und Eindringlinge in ihr Revier krankenhausreif schlagen.
Und auch anders als das London derjenigen Stimmen in der afro-karibischen Community, die den Radiomoderator Reggie Yates kritisch sehen, weil er, der aus einer nigerianischen Familie stammt, die Stimme der Patois sprechenden Fernsehfigur "Rastamouse" ist. Diese durch und durch popkulturelle Fixierung auf imaginäre Wurzeln macht selbst vor den nativ Londoner Spielarten britischer Bassmusik nicht halt. Auch dort holt man sich Credibility am Ursprung – auf Jamaika.
Im letzten Herbst erschien die "Showa Eski EP", auf der eine Reihe Londoner MCs über den ersten jamaikanischen Grime-Riddim rappen durften. Mit dabei auch der "Godfather of Grime" – Wiley. Nach ein paar Strophen aus Selbstbeweihräucherung und Runtermachen der Konkurrenz mündet sein Rap in der Feststellung "To the urban crowd I'm a simple." Denn "urban", diese Bezeichnung für einen städtischen Lebensstil, der Multikulturalismus mag, aber eine geschmackvolle Distanz zur seinen Widersprüchen wahrt, will jemand wie Wiley nicht sein.
Obwohl er es sich leisten könnte. 2008 hatte er mit "Wearing my Rolex" einen Hit, auf dem er über einem geraden Elektrobeat das eigene Charmeurstalent besang. Vom Rapper zum Ladies Man – mit dem gleichen Imagewandel hatte schon sein ehemaliger Weggefährte Dizzee Rascal die englische Mittelschichtsjugend auf seine Seite gebracht. Aber Wiley wäre gerne weiter der MC, als der er auf den Dächern der Wohnblocks in East London die ersten Battles gewann. Also sabotiert er seinen Erfolg. Geschichten über seine Unzuverlässigkeit sind unter Journalisten und Konzertagenten Legion. Er feuert seinen Manager und stellt am gleichen Abend 200 unveröffentlichte Tracks ins Netz. Und parallel zum Release seines Albums "100 % Publishing" veröffentlicht er ein exzellentes Mixtape, selbstverständlich kostenlos. Die Reaktion der Marketingabteilung seines Labels ist nicht überliefert.
Gender spielt keine Rolle
Denn mehr Freiheit als auf "100 % Publishing" kann man als Musiker eigentlich nicht haben. Produktion, Artwork, Video – ohne Wiley wurde nichts beschlossen. Und so ist sein Album ein persönliches Statement zum Leben nach dem Hit geworden, eine Ansammlung von Erfolgsrezepten, Reue und programmatischen Statements zum Überleben in der Musikindustrie. "I'm goin' DIY" verkündet Wiley im Titeltrack. und wie das aussieht, kann man jeden Tag auf seinem Twitter-Stream verfolgen. Wiley legt sich mit Rappern und DJs an, erfindet die Geschichte seiner Familie als Rastafaris neu. Zwischendurch streamt er Videos, auf denen er beim Eierkochen zu sehen ist. Wiley verkörpert die neoliberale Anrufung zur permanenten Selbstvermarktung des Künstlersubjekts perfekt und gibt sie dadurch der Lächerlichkeit preis. Und hinter den Kulissen erweist sich er als fleißiger Netzwerker, der junge MCs mit Kontakten versorgt und auf seinen Platten auftreten lässt.
Auch Cleopatra Humphrey hat ihre Erfahrungen mit Wiley gemacht. Als 18-Jährige nahm sie unter dem Pseudonym Mz Bratt eine Parodie von "Wearing my Rolex" auf, Wiley zeigte sich amüsiert und nach den ersten Releases wurde sie Mitglied seines Kollektivs A-List. Für Mz Bratt ein Schritt in den Fußstapfen ihrer Eltern. Ihre Mutter arbeitete in einem Danceclub, ihr Vater war MC eines Acid-House-Acts. "Mein Vater war der Grund, warum ich mit dem Rappen angefangen habe", erzählt sie. "Meine Eltern hatten wilde Partys. Dann saß ich mit meiner Schwester auf der Treppe und wir haben zugehört, wie unten House, Jungle und UK Garage lief."
Eine Sozialisation inmitten des Hardcore Continuums also, die bedeutet, dass man sich nicht mit den Schlammschlachten einer Szene aufhält. Mz Bratt beherrscht die partytaugliche Elektrohymne ebenso wie das Freestyling am Mikrofon und hat sich in der Grime-Szene, wo Macho-Attitüden an der Tagesordnung sind, einen Platz in der ersten Reihe erspielt. "Ich finde, dass Gender keine Rolle dabei gespielt hat, dass ich ein sick MC geworden bin", meint sie. "Aber für junge Frauen ist es immer noch schwierig, als Rapperin anerkannt zu werden."
Warum sollte es im Grime auch einen Unterschied zu den anderen Spielarten britischer Dancemusic geben, wo Frauen fast nur auf der Tanzfläche zu finden sind? Doch anders als bei den Connaisseuren aus dem Post-Dubstep-Lager wird das soziale Kapital nicht über das Tauschen von unveröffentlichten Musikdateien verteilt. Sondern muss in 16 Takten jedes Mal aufs Neue erstritten werden - mit einem Erfolg, an den vor zehn Jahren niemand geglaubt hätte.
Wiley, "100 % Publishing" (Big Dada/Rough Trade); LV & Joshua Idehen, "Routes" (Keysound/Cargo); Mz Bratt, "Selectah" (Atlantic)
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