Griechischer Philosoph über Krise: „Wir haben keinen rationalen Staat“
Es herrscht eine gewisse Gesetzlosigkeit in seiner Heimat, sagt der Philosoph Nikos Dimou. Verräter nennen ihn manche, weil er in der Krise den Dialog mit Europa sucht.
sonntaz: Herr Dimou, in Ihrem neuen Buch sagen Sie, die Griechen verdankten den Deutschen vieles. Damit stehen Sie in Griechenland allein da: Meinen Sie die deutschen Finanzspritzen?
Nikos Dimou: Ich denke weiter zurück: Im 18. Jahrhundert entdeckte der deutsche Kunstkenner Johann Joachim Winckelmann das antike Griechenland als sein Ideal. Die Griechen waren für ihn gloriose Vorbilder, und mit diesem Mythos beeinflusste er ganz Europa: Man denke nur an die Werke von Goethe, Hölderlin oder Lord Byron! Wegen dieser Bewunderung halfen uns die Europäer, uns von den Türken zu befreien. Der bayrische Prinz Otto wurde dann unser König und importierte westliche Institutionen, die uns nach der 400-jährigen osmanischen Besatzung aber ganz fremd waren. Bis heute stammt unser Gesetzbuch aus dieser Zeit.
Davon merkt man aber nicht mehr viel, oder?
Die negativen Seiten schon: Die Bevölkerung bestand damals zu 98 Prozent aus Analphabeten und balkanischen Bauern. Denen wurde plötzlich gesagt, dass sie die Nachfolger von Perikles seien, und dazu sollten sie von einem auf den anderen Tag Europäer werden. All das hat sie restlos überfordert. Diese deutsche Erfindung vom Idealgriechen hat ihr Ego aufgeblasen und zugleich eine Identitätskrise geschaffen.
Wie erklärt das die heutige Krise?
Wir sind vom Feudalismus in die Moderne katapultiert worden. Wir haben Jahrhunderte europäischer Geschichte verpasst, keine Renaissance, Reformation, Aufklärung oder Revolutionen durchgemacht. Deshalb fehlt uns eine Mittelschicht, die all das verkörpert, und sind fern davon, ein organisierter, rationaler Staat zu sein. Erst jetzt begreifen die Europäer, dass wir außerhalb der europäischen Tradition stehen.
1935 in Athen geboren, ist Autor von über 60 Büchern. Nach seinem internationalen Bestseller "Über das Unglück, ein Grieche zu sein" legt er auf Deutsch nun platonische Dialoge vor. Flott diskutiert er darin mit fiktiven Gesprächspartnern die Plattitüden, Stereotype und Feindbilder über „die Griechen“, die Medien, Politiker und andere Deutsche in der aktuellen Krise fabriziert haben. Es ist ein schonungsloses, differenziertes und liebevolles Porträt von einem Land, das stets viele Besucher anzieht und das doch wenige wirklich kennen.
Haben wir Deutschen also ein verklärtes Bild von Griechenland gehabt?
So ist es. Interessanterweise haben auch die Griechen die Deutschen immer idealisiert – sie galten als fleißig, organisiert, produktiv. Heute allerdings gehört Deutschland zu den unbeliebtesten Nationen, während die vormals verachteten USA in der Skala aufgerückt sind. Wir Mittelmeermenschen neigen dazu, alles zu übertreiben und von einem ins andere Extrem zu fallen. Das deutsch-griechische Verhältnis macht gerade einen Entzauberungsprozess durch.
Die Vergangenheit hat starken Einfluss auf die Gegenwart: Ist Winckelmanns romantischer Irrtum wirklich ausschlaggebend oder nicht doch die deutsche Besatzung von 1941 bis 1944, die Griechenlands Lebensgrundlagen wie in kaum einem anderen Land zerstört hat?
Winckelmanns Ideen wirkten im 19. Jahrhundert und wurden somit ein Bestandteil des griechischen Selbstbildes. Die Besatzung kam viel später und hat doch tiefe Spuren hinterlassen. Ich habe mich stets gewundert, dass wir Griechen diese leidvolle Phase scheinbar so schnell überwunden haben und die Deutschen wieder mochten.
Aber die Krise hat alles Negative wieder aufgeweckt.
„Die Deutschen sind an allem schuld“, Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 120 Seiten, 9,95 Euro.
Winckelmanns Einfluss ist jedoch bedeutsam: Wir haben uns seither überschätzt, und das löste eine sonderbare Reaktion aus. In Wahrheit leiden wir unter Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex gleichzeitig, wir fühlen uns missverstanden und nicht unserem Ruhm entsprechend behandelt. Eigentlich sind wir Opfer der Geschichte und haben eine underdog mentality. Wir machen deshalb stets andere für unsere Misere schuldig. Verschwörungstheorien sind unser Lieblingssport!
Woher kommt dieser regelrechte Verfolgungswahn?
Unsichere Menschen mit einem Identitätsproblem in kleinen Nationen neigen rasch dazu, sich bedroht zu fühlen. Wir sind zwar übermäßig stolz, Griechen zu sein, wissen in Wirklichkeit aber gar nicht, wohin wir gehören: zum Westen, zum Osten? Sind wir Europäer oder gehören wir doch eher zur orthodox-östlichen Kulturwelt? Die 400-jährige türkische Herrschaft hat uns stärker geprägt, als wir uns eingestehen. Später hat die orthodoxe Kirche unser Misstrauen gegenüber dem Westen geschürt, was auf fruchtbaren Boden fiel, denn unser historisches Gedächtnis ist aufgrund westlicher Interventionen voller Traumata. Dass wir dem Westen zugleich viel zu verdanken haben, wird gern übersehen. Wir sind eine sehr gespaltene Nation voller Widersprüche.
Und trotz der berühmten Gastfreundschaft auch auffällig fremdenfeindlich?
Das hat mit unserem negativen Bild des Westens zu tun, wozu die orthodoxe Kirche mit ihrer Indoktrination stark beigetragen hat. Schon in der Schule lernen die Kinder Mythen, unser Unterricht ist gezeichnet von unterdrücktem Narrativen. In der jetzigen Krise gibt es ein wachsendes Maß an Intoleranz gegenüber allem, was unser monolithisches Selbstbild und unseren überhöhten Patriotismus stört.
Diese Neigung zur Abschottung zeigt sich in vielen Bereichen.
Bei uns gibt es eine Flut von Gesetzen, die, kaum in die Welt gesetzt, auch schon wieder begraben sind. Es herrscht eine gewisse Gesetzlosigkeit, schauen Sie sich zum Beispiel das Verkehrsverhalten der Leute an! Die Linke, der zweite große kulturelle Einfluss nach der Kirche, hat uns gelehrt, dass das oberste Gesetz der „Wille des Arbeiters“ ist, und das bedeutet: Wir tun, was uns passt. König Ottos institutionelle Vorgaben haben die Griechen nie akzeptiert, weil sie ihnen oktroyiert wurden und nicht aus der Gesellschaft heraus kamen.
Braucht Griechenland einen neuen Sozialkontrakt?
Wir brauchen Zeit, um eine Mittelschicht und Organisation aufzubauen und unsere Mentalität zu ändern. Diese Entwicklung wird lange dauern. Da ich schon bald achtzig Jahre alt bin, werde ich einen rationalen griechischen Staat nicht mehr erleben.
Das klingt alles sehr resigniert. Hat die Krise nicht auch viele neue Initiativen und Kreativität hervorgerufen? Brauchen die Griechen die Herausforderung, um ihr Land zu reformieren?
Wir sind ein kleines Land mit unglaublich vielen Talenten, die sich jedoch überwiegend im Ausland entwickelt haben und erfolgreich wurden, zum Beispiel Maria Callas, der Dichter Kavafis, der Dirigent Dimitri Mitropoulos, der Schriftsteller Nikos Kazantzakis, der Nobelpreisträger Seferis und so viele andere.
Wie reagieren Ihre Landsleute auf Ihre Thesen?
Manche bezeichnen mich als Verräter, als Nestbeschmutzer. Kritik und Selbstkritik sind nicht unsere Stärke. Aber weil ich mein Land sehr liebe und auch seine einmaligen, großartigen Seiten kenne – das Licht, die Liebe zum Leben und zur Freiheit –, bin ich streng. Nur so kann ich ein nützlicher Bürger sein. Ein serbischer Autor hat mir mal gesagt: „In Krisenzeiten muss ein Intellektueller sich zum Verteidiger des Gegners machen.“ Da ich mehrere Sprachen gut spreche, habe ich die nicht immer einfache Rolle eines Vermittlers zwischen uns und dem übrigen Europa übernommen. Ich wurde deshalb als westfreundlich kritisiert.
In Ihrem Buch sagen Sie, Deutsche und Griechen sprächen auch sinnbildlich verschiedene Sprachen, sie verstünden sich gegenseitig nicht. Wie könnte ein Dialog in Gang kommen?
Durch die Krise haben wir den Dialog bereits begonnen. Er hat, gelinde gesagt, nicht immer philosophische Formen angenommen, aber die Umstände haben uns gezwungen, endlich auf den Boden der Realität zu kommen und uns auseinanderzusetzen.
Als Land zwischen den Konfliktlinien, zwischen Ost und West, könnte Griechenland langfristig doch eine wichtige Brückenfunktion einnehmen?
Wenn wir uns entscheiden, in der Europäischen Union zu bleiben und den Dialog fortzuführen, wäre das in der Tat eine wichtige Aufgabe.
Und am Ende stellen wir fest, dass wir eigentlich gar nicht so verschieden sind?
Augenfarbe, Haarfarbe, Risiko für Brustkrebs. Was sollten Eltern über ihr ungeborenes Baby erfahren? Wie eine Frau mit dem Wissen um das Schicksal ihres Kindes umgeht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. März 2014. Außerdem: Der Nachbar, die Gefahr. Ein Appenzeller Bauerndrama von Erwin Koch. Und: Vier junge Menschen aus allen Teilen der Ukraine erzählen von ihrem Land im Umbruch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Geburt, Liebe und Tod sind die großen Momente unseres Lebens. Menschlichkeit ist das, was uns alle verbindet, und dahin müssen wir gemeinsam zurückkommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
Hamas und Israel werfen sich gegenseitig vor, Gespräche zu blockieren