Grenzerfahrung: Mitten im fremden Kulturkreis
Eine Berlinerin, ein deutschpalästinensischer Kameramann und ein Automechaniker fahren während des Ramadan 2006 von Berlin nach Amman. Eine Undercover-Reisegeschichte.
Die Grenzanlage der Türkei zwischen dem bulgarischen Svilengrad und dem türkischen Städtchen Edirne ist massiv, monumental und beeindruckend. Im nächtlichen Flutlicht auch Angst einflößend. Unsere erste Nacht in der islamischen Welt begrüßt uns in gleißend weißem, kaltem Strahlerschein.
Zum ersten Mal merke ich hier, bei unserem sechsten Grenzübertritt, wie in unserem Fahrer die Unruhe wächst. Nach einem kurzen Blick in unsere Pässe voll arabischer Stempel bedeutet uns der strenge Grenzer, nach einigen Metern rechts ranzufahren. Wir folgen dem Kommando. "Au, au, das wird schwierig - ihr bleibt hier, das kann dauern", ruft Sharif beim eleganten Sprung von seinem stilecht mit weißem Schaffell bezogenen Fahrerthron. Rico und ich warten im Bus.
Die Kontrollhäuschenprozedur dauert mir mit einer Dreiviertelstunde zu lange. Ich beschließe, zur umlagerten Station zu laufen. "Hau ab, was willst du hier?", zischt Sharif mich böse an, als er mich hinter sich bemerkt, "das hier ist Männersache, bring du nicht alles durcheinander! Ich habe dir doch gesagt, dass du im Bus bleiben sollst, jetzt tu doch einmal, was ich dir sage, du sollst nicht selber denken!" Auf dem Absatz mache ich kehrt, stapfe in den Bus zurück und ärgere mich maßlos über Sharifs aggressiven und anmaßenden Ton. Wäre ich mit diesem Ton aufgewachsen, hätte ich jemals die Kraft und den Willen gefunden, mich zu emanzipieren? Womöglich nicht nur gegen den Vater, sondern auch gegen die Brüder und Onkel zu protestieren? Um Ricos ersten Kontakt mit dem islamischen Geschlechterverhältnis nicht noch komplizierter zu machen, als er ohnehin schon ist, beschließe ich, mich nur im Stillen zu ärgern und die Namen unserer möglichen morgigen Badeorte mit ihm durchzugehen. Wir entscheiden uns für die schon bei Herodes erwähnte Küstenstadt Tekirdag mit etwas über hunderttausend Einwohnern, direkt am Marmarameer gelegen.
Als wir weiterfahren dürfen, hat Sharif schon wieder vergessen, wie er mich zuvor angeschnauzt hat. "Ist doch gar nicht so schlecht, dich dabeizuhaben", wendet er sich an mich. "Du hast dem Grenzer bestimmt auf Anhieb gefallen, und auch ich bin in seiner Achtung gestiegen, als er dich gesehen hat. So eine Frau wie du veredelt einen Typen wie mich", scherzt er fröhlich, ohne ein Wort der Entschuldigung. Da ich keine Lust auf Diskussionen habe, die Nervosität des Grenzübertritts von uns abgefallen ist und uns morgen ein Urlaubstag bevorsteht, beschließe ich, den Vorfall bis auf Weiteres zu vergessen.
Wir fahren im Dunkeln durch die erste türkische Stadt, Edirne. Wir sind in der historischen Grenzstadt, die das Osmanische Reich von seinen westlichen Provinzen, den Milet, trennte. Rico ist ganz aufgeregt und freut sich über die vielen Moscheen, die nachts mit grünen Lichtern oder, besonders jetzt im Ramadan, mit bunten Lichterketten im Las-Vegas-Stil dekoriert sind. Nach hundert Kilometern schlagen wir unser Nachtlager auf dem Parkplatz einer riesigen, blitzsauberen Raststelle auf. Jetzt, da wir in einem islamischen Land angekommen sind, ist es an Rico, sein Zelt aufzubauen, damit ich mir den Schlafplatz nicht mit Sharif teilen muss.
Am nächsten Morgen, wir sind noch dabei, die unendliche Weite der wüstenartigen Landschaft in der Morgenhitze zu begreifen, bringt uns ein Angestellter ungefragt Tee an den Bus. Rico und ich sitzen unter einer riesigen türkischen Flagge an der Raststätte in der menschenleeren Ödnis und schlürfen unseren ersten türkischen Tee mit einem Einheimischen. Der junge Mann spricht Englisch und auch etwas Deutsch und will alles über unsere "crazy" Tour mit dem Bus wissen. Rico probiert sein sächsisch gefärbtes Englisch im Smalltalk. Natürlich dürften wir die Waschräume benutzen, doch warum Sharif den Tee ablehnt, sich so ausführlich wäscht, sogar fastet und betet, versteht der junge Türke nicht. Es sei doch gerade das Gute am Reisen im Ramadan, dass man nicht fasten und nur dreimal täglich beten müsse! Warum sich unser Fahrer dieser Strapaze freiwillig unterzieht, kann der Tankstellenangestellte nicht verstehen. Ich entgegne, dass man als guter Muslim doch die Gebete und die Fastentage nachholen müsse - woraufhin mich der Mittdreißiger treuherzig anschaut, einen Schluck Tee nimmt und die Hand auf sein Herz legt. "Allah ist sowieso in dir - es ist nicht so wichtig, zu fasten und immer zu beten, du musst nur an ihn glauben! Oder denkst du, ihr Christen, die ihr an den gleichen Gott glaubt, kommt in die Hölle, weil ihr im Ramadan nicht fastet?", fragt er mich belustigt. "Ich weiß noch nicht, was ich glaube", antworte ich wahrheitsgemäß, woraufhin der Türke wieder nickt. "Du musst Gott suchen und ihn in dir finden, nicht in den alten Büchern. Dann wirst du ein guter Mensch, egal ob Muslim, Christ oder Jude."
Voll Vorfreude auf den Tag am Meer starten wir in Richtung Süden. Die Landschaft ist mediterran, hügelig und die Vegetation bis auf die Nadelhölzer nun, Anfang Oktober, schon recht ausgedörrt. Als Gegensatz zum satten, dichten Grün des Balkans erleben wir jetzt ein ockergelbes Panorama, durchbrochen von spärlichem Gestrüpp, weiß getünchten Häuschen und Minaretten unter strahlend blauem Mittelmeerhimmel. Kein Wunder, dass auch die Türken an das Heilige Buch glauben, in dem das Paradies als ein Land voller Flüsse und üppiger Vegetation beschrieben wird, denke ich mir.
Wir erreichen Tekirdag am frühen Nachmittag und fahren sofort an den Strand. Auch wenn das Städtchen im Sommer Badetouristen beherbergt, ist nun, außerhalb der Saison, trotz dreißig Grad und Sonnenschein nichts mehr davon zu merken. Rico, der auf Ausschau nach Mädchen stets den Kopf aus dem Fenster streckt, klassifiziert die Frauen ihrer Kleidung nach. Auf der Fahrt durch Tekirdag bemerkt er ausnahmslos unmodisch gekleidete Frauen mit Kopftuch. Leider ist es auch an der schönen, sauberen Strandpromenade nicht anders, sodass in mir weder Urlaubs- noch Strandstimmung aufkommen kann. Hier flanieren Familien, Männer in Gruppen und Frauen mit ihren Kindern direkt am Meeresrand. Meine beiden Reisebegleiter entledigen sich ihrer Kleidung.
Als Sharif sich auszieht, scherze ich mit Blick auf seinen kräftigen behaarten Oberkörper, ob er sich sicher sei, die religiösen Gefühle der vorbeispazierenden Mädchen nicht zu verletzen. Rico ist schon ins Wasser gesprungen und tollt herum. Sharif blickt an sich herab, gibt mir recht und zieht sich wieder an. Ich überlege, was ich tun soll, und verlasse den Bus nur zögerlich, gehe ans Wasser. Da ich ein schulterfreies, sportliches Top trage, Rico im Wasser und Sharif außer Sichtweite ist, errege ich die Aufmerksamkeit aller Männer um mich herum. Sie starren mich unverhohlen an, scheinen über mich zu sprechen und zu lachen. Ob sie sich freuen oder mich verfluchen, weil ich ihre Gedanken mit meinem Sporthemdchen von Gott ablenke, überlege ich kurz, dann überwiegt aber ein diffuses Gefühl des Unwohlseins in mir. Ich gehe in den Bus, und statt mich für das Meer auszuziehen, ziehe ich ein weites, langes Hemd über meine weite, lange Hose. Um mich an den Strand zu setzen, ohne die religiösen Gefühle der trotzdem starrenden Männer zu verletzen.
Sharif kommt aus dem Bus und schaut mich verwirrt an, da er von mir weiß, dass ich normalerweise die Erste im Wasser bin. "Was soll ich hier schwimmen, ich bin verboten, mein Körper ist des Teufels, ich hab keine Lust, den Hass des ganzen Ortes auf mich zu ziehen. Ich geh hier nicht schwimmen!", nehme ich seine Frage vorweg. Sharif erwidert trocken, dass das eine gute Entscheidung sei. Er will in die Moschee zum Beten. Rico planscht noch im Wasser herum und ruft mir zu, wie herrlich es sei und was ich denn noch an Land mache.
Innerlich koche ich. Doch wir sind gerade erst am Anfang der Reise im neuen Kulturkreis, ein wenig werde ich mich noch anpassen können. Ich nehme mir unseren letzten Abwasch vor, da ich in wenigen Stunden ja schon wieder kochen muss. Zwar habe ich tagsüber Wasser und Tee getrunken, aber nichts gegessen - längst kein ernst zu nehmender Ramadan-Versuch, aber doch eine Annäherung an den Fastenmonat. Sharif schnappt sich mein Fahrrad und verabschiedet sich.
Ich sitze immer noch in voller Montur in der Spätsommerhitze am Meer und wasche ab, schon jetzt wütend auf die Unfreiheit, die ich mir selbst zu verdanken habe. Männer schlendern vorbei, rufen mir Sätze zu, die ich nicht verstehe, fragen mich auf Englisch nach der Uhrzeit. Ist es mein Haar, meine einfache Pony-Pferdeschwanz-Frisur, die trotz meiner schlabberigen Kleidung noch provozierend wirkt? Soll ich mir auch noch ein Kopftuch aufsetzen?
Als ich so am Schrubben und Grübeln bin, kommt Rico aus dem Wasser, setzt sich strahlend neben mich und schmatzt ein wenig. "Mensch, jetzt hätte ich gern ein Bier, aber das ist hier bestimmt verboten, oder?" Die Region Tekirdag ist für ihre Raki- und Weinproduktion bekannt, doch gab es auch schon einen Bürgermeister der AKP, der Partei von Staatschef Erdogan, der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, der in Festzelten der Stadt den Alkoholausschank verbot. Auch behauptete er, die Dämpfe der Schnapsfabrik der Stadt würden die Kinder vergiften. Trotzdem wird in Tekirdag weiter gebraut, gebrannt und getrunken. Rico springt auf, zieht sich an und will einen Laden suchen, der Bier verkauft. Ich wünsche ihm viel Erfolg und schaue aufs Meer.
Als immer mehr Männer vorbeikommen und wirklich jeder mir irgendetwas mitteilen oder etwas von mir wissen will, gehe ich in den Bus, nehme mir mein großes Tuch und bastele es mir halbwegs vorschriftsgemäß auf den Kopf. Endlich kann ich ungestört am Ufer des Marmarameeres sitzen und meinen Gedanken bzw. Empfindungen nachhängen. Rico kommt zurück, er hat vier Halbliterdosen des türkischen Starkbiers Efes Xtra diskret in zwei blickdichten, fest verknoteten Plastiktüten erworben. "Wie siehst du denn aus?!", begrüßt er mich, die er seit zwei Wochen nur in Caprihose, Rock und Top gesehen hat. "Machste hier einen auf Türkin? Musste nicht! Die Frau, die mir Bier verkauft hat, hatte auch kein Kopftuch auf und nur ein T-Shirt an. Aber sie meinte, wir sollten das Bier nicht öffentlich trinken."
Der Tag geht zur Neige, und ich habe überhaupt keine Lust, für Sharif zu kochen. Aber gleich Bier trinken, an meinem ersten Probe-Ramadan-Tag im islamischen Land? Als die Sonne nach zehn Minuten im Meer versinkt und Sharif es weder für nötig hält, einen Sonnenuntergang mit mir am Strand zu erleben, noch, mir eine Nachricht zu schicken, dass er zum Essen bei seinen Brüdern in der Moschee bleibt, nehme ich mein Kopfgebinde ab und stattdessen ein Bier und proste Rico zu.
Sharif kommt eine Stunde später, satt, spirituell befriedigt und voll Energie. Er hat sich köstliches Lahmacun, türkische Pizza mit Rinderhack, gekauft, scheint also gar nicht darüber nachgedacht zu haben, ob ich vielleicht schon gekocht haben könnte. "Na, wie war dein erster Tag im Ramadan?", fragt er mich freundlich, doch ich kann nicht einfach so tun, als ob nichts wäre. Er soll merken, dass er etwas falsch gemacht hat, dass ich unglücklich bin, er soll sich entschuldigen.
Mir fällt nicht auf Anhieb ein, wofür. Aber ich will eine Entschuldigung, für meine Lebensumstände hier in seinem Kulturkreis und dafür, dass er sich mir gegenüber einen Ton erlaubt hat, den er sich von der Roma-Familie am bulgarischen Grenzübergang abgeschaut zu haben scheint. Ich entsorge die Bierbüchsen, will nicht, dass er merkt, dass ich getrunken habe. Fühle mich denkbar schlecht in dieser merkwürdigen Situation, die ich mir selbst zuzuschreiben habe. Als europäische Frau, die hier etwas zu spüren - oder ist es eher spielen? - versucht, was nicht das Ihre ist.
JASNA ZAJCEK, Jahrgang 1973, ist taz-Autorin und "CNN Journalist of the year 2005". Der vorliegende Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus ihrem Buch "Ramadan Blues", 224 Seiten, Herder Verlag, Freiburg, 16,90 Euro, das jetzt erscheint
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