: Grenzenlose Konfusion
■ Für fusionswillige EG-Konzerne verschwinden die Grenzen - den Grenzbewohnern selbst bleibt die Konfusion - auch ohne Grenzen „Nach belgischen Gesetzen und dem ehemaligen Code Napoleon wohnen Sie dort, wo Ihre Frau schläft“
Teil 37: Von Bernd Müllender
Deutsch-holländische Grenze bei Aachen, anno 1989: Eigentlich dürfte es diese Autoschlangen gar nicht mehr geben. Immer wieder verstoßen Zollbeamte, seit Jahren schon, gegen geltendes Recht, indem sie am Schlagbaum Stichproben machen statt einzelne auf den Seitenstreifen herauszuwinken. So müssen alle warten, und man kann nicht im Schrittempo die Grenze passieren, wie eigentlich vorgesehen. Aber verhalten sich nicht immer wieder auch die Autofahrer schlicht dumm? Sie bleiben grundsätzlich stehen, starren die Beamten ehrfurchtsvoll an wie das Kaninchen die Schlange, kramen umständlich in ihren Taschen herum, recken schließlich ihre Papiere heraus, und warten demütig auf Kontrolle oder ein großzügiges Handzeichen der Autoritäten. Was mögen diese Menschen nur machen, wenn die Grenzen abgeschafft sind?
Die Personenkontrollen zwischen den Benelux-Ländern, Frankreich und der BRD sollten bereits in der kommenden Neujahrsnacht beendet sein: Grenzen total offen, quasi als Probelauf für den anvisierten Binnenmarkt 1993. Doch die für gestern vorgesehene Unterzeichnung des Zusatzvertrages zum „Schengener Abkommen“, das die Freizügigkeit zwischen den fünf Staaten festschreiben sollte, ist erst mal geplatzt. Der Testlauf muß warten, möglicherweise fällt er ganz aus. Kompatible Datenregister zur Personenfahndung fehlten, und zuletzt gab's dann noch Streit um den Status der DDR-Bürger (siehe taz von gestern). Ab 1993 - wenn es denn wenigstens bei diesem Datum bleibt - müßte eigentlich vieles besser sein, einfacher und unbürokratischer, doch in vielen Dingen wird das Gegenteil eintreten. Es wird sogar heimtückisch. Treffen wird es nicht zuletzt jene fast 20.000 Grenzgänger im Dreiländereck zwischen dem niederländischen Süd-Limburg, dem deutschsprachigen Ostbelgien (vormals Eupen-Malmedy) und dem Großraum Aachen, die schon heute arg gebeutelt sind.
Die Pendler dieser „Euregio Maas/Rhein“, mit 3,5 Millionen Menschen der größte Ballungsraum mehrerer Staaten innerhalb der EG, sind jene leidgeprüfgten Menschen, die hier arbeiten und dort wohnen, die sich deshalb mit immer neuen Behörden streiten, wer die Steuern einkassieren darf; die hier Sozialbeiträge zahlen, dort kein Arbeitslosengeld und reduzierte Kindergeldbeträge bekommen; die einen Führerschein aus diesem Land besitzen, ein Auto jedoch in jenem Land nicht fahren dürfen, weil sie es im dritten zugelassen haben. Das klingt genauso kompliziert wie es ist.
Ständiger Schilderwechsel
Beispiel Auto: Im Wohnsitzland darf niemand einen Wagen mit fremden Kennzeichen fahren, denn da wittern die Zollbehörden Schwarzimport und Steuerhinterziehung. Immer wieder kommt es vor, daß die Autos solcher Schwarzfahrer im eigenen Pkw plötzlich abgeschleppt und beschlagnahmt werden. Um dem zu entgehen, meldeten manche ihre Fahrzeuge jahrelang doppelt an (inklusive doppelter Versicherung und Einfuhrzöllen) und montierten an der Grenze stets die Kennzeichen um. Seit einigen Jahren wurden gelegentlich großzügige amtliche Ausnahmegenehmigungen erteilt: Eine exakt definierte Strecke vom Zollhäuschen zur ausländischen Wohnung war erlaubt, kein Meter Umweg.
Aber auch wer nicht im Ausland wohnt, sondern nur regelmäßig herüberfährt, kann in die Klauen der Behörden geraten: Da ist die junge Frau, die 1988 regelmäßig ihren Freund im belgischen Nachbardorf besuchte. Die Behörden unterstellten, sie wohne dort, befahlen ihr sich anzumelden (mit allen Konsequenzen für ihren Wagen), und verwiesen sie des Landes, als sie sich weigerte. Ein anderer Besucher hörte die Zöllner sagen: „Nach belgischen Gesetzen und dem ehemaligen Code Napoleon wohnen Sie dort, wo Ihre Frau schläft.“ Das tat diese im Königreich, also her mit den 25 Prozent Einfuhrzoll für das „illegal“ eingeführte Automobil.
Derzeit brüten die EG-Bürokraten über einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes aus dem vergangenen Jahr. Der EuGH hatte sich des Themas angenommen und einige Änderungen verlangt, die auch in Aussicht gestellt wurden. Nicht bedacht werden bislang Selbständige. Besonders hart trifft das beispielsweise die Inhaber von Fahrschulen, die etwa in Belgien wohnen und in Aachen das Fahren lehren. Sie dürfen mit ihrem Gefährt nicht nach Hause fahren. Melden sie ihren Wagen in Belgien, dürfen sie in Aachen niemanden das Fahren lehren, weil die Angestellten ja dann in ihrem Wohnsitzland ein fremdes Fahrzeug steuern würden.
Neue Führerscheinprüfung
Beispiel Führerschein: Hier kennt die Bundesrepublik eine ganz eigene verrückte Bestimmung. Wer aus einem anderen EG -Land in die BRD zieht, muß seinen Führerschein innerhalb eines Jahres ummelden, ansonsten ist er verfallen, und es hilft nur noch die erneute Fahrprüfung. Einer ahnungslosen Französin, die sich mit Zweitwohnsitz in Aachen anmeldete, wurde diese Regelung 1988 zur Falle. Sie pendelte nach Belgien, fiel auf, und wurde prompt wegen Fahrens ohne Führerschein verdonnert, die Fahrerlaubnis obendrein eingezogen. Jetzt prüfen die Gerichte, ob ihr Aachener Nebenwohnsitz gesetzesrelevant ist, oder ob sie juristisch als weiterhin in Paris wohnhaft zu definieren ist.
Oder das weite Feld der Besteuerung: Hier verzweifeln die einen Steuerberater, die anderen spezialisieren sich auf bilaterale Steuerfragen und bieten ihr Wissen für 150 Mark die Stunde an. Wer in der BRD arbeitet und in Belgien wohnt, muß grundsätzlich dort Steuern zahlen, was meist horrende Nachteile hat, weil man vieles an sogenannten Sonderausgaben (Freibeträge, Sozial-, Renten, Kranken-Versicherungen, Spenden etc.) im Nachbarland nicht absetzen kann. Aber Ausnahmeregelungen, die sich freilich bisweilen auch selbst aufheben können, vermögen alles unter Umständen wieder umzudrehen.
Für manchen Bundesbürger ist der Auslandswohnsitz in den Niederlanden auch bares Geld. Der gutverdienende Chefarzt eines Aachener Krankenhauses etwa muß nach den dortigen Bestimmungen als „beschränkt Steuerpflichtiger“ sein Einkommen jeweils dort versteuern, wo es „anfällt“. Je ein Gutachten in Krefeld und in Köln, dazu ein Lehrauftrag in Düsseldorf, der Rest in Aachen - und schon kann er seine Gesamteinkünfte auf vier Finanzämter splitten. Das lohnt fünfstellig - der Staat zahlt also, anders gerechnet seine komplette Miete in Holland.
„Nicht zuständig“
Beispiel Soziales: In Belgien gibt es für Selbständige kein Kindergeld. Wer im Ausland wohnt, ist oft nicht ABM -berechtigt. Die Behörden schieben sich die Zuständigkeit für Arbeitslose gegenseitig zu. In Holland müssen oft Beiträge in die hohe Sozialversicherung bezahlt werden, deren Leistungen man nie in Anspruch nehmen kann. Oder man zahlt dort den Arbeitgeberanteil gleich mit, weil die Niederländer sozialversicherungsfreie Arbeitsverträge nicht anerkennen. Wer arbeitsunfähig wird, bekommt unisono zu hören: „Nicht zuständig“. Behindertenausweise werden gegenseitig nicht anerkannt, Mutterschaftsgelder abgelehnt. Und auch schon der Versuch als Deutsche, die in Belgien wohnt, aus der Kirche auszutreten, endete im Behördenwirrwar: Amtsgericht Aachen - Sie wohnen im Ausland, nichts zu machen; belgische Verwaltung - ja, Sie sind doch Deutsche; Pfarrer - keine Ahnung; schließlich schickte sie das Aachener Domkapitel zum Generalvikariat nach Lüttich.
Aachen, Dreiländereck: Menschen müssen Zölle zahlen, weil sie zufällig einen Kasten Bier, quasi als Transitware, im Kofferraum vergessen hatten, oder versehentlich einen Satz Fußballtrikots hin- und hergefahren hatten. Ein Telefonnahtarif zwischen zwei Wohnungen, die sich gegenüberliegen, aber zu zwei Ländern gehören, wurde in Wahlkämpfen immer gefordert, bis heute aber nie realisiert. EG-Bürokratie, das heißt: Wer, wie es einem Holländer in der Nähe Aachens wiederfuhr, eine deutsche Wiese hinter seinem Grenzgrundstück für seine beiden Ponys mietet, braucht neun verschiedene Genehmigungen, inclusive Ausweise samt Paßbilder seiner Tiere. Europa dieser drei der zwölf, das hieß schon: geplante Sperrung des nahen holländischen Freibades für Deutsche, weil es sonst für Einheimische zu voll wurde, das bedeutete lange Zeit Bußgelder für belgische Parkscheiben in Aachen, weil sie gewisse Formvorschriften nicht erfüllten.
Und jetzt werden die Grenzen abgeschafft, Freizügigkeit ohne Kontrollen garantiert. Die Menschen werden glauben, spätestens ab 1993 seien all die widersinnigen, abstrusen Gesetze harmonisiert, die Probleme abgeschafft, und sie werden mehr denn je arglos ins Ausland ziehen und über die alten Grenzen pendeln. Dann wird die Anzahl und Schwere der Probleme erst recht zunehmen, weil sich an fast all den oben genannten Schwierigkeiten nichts ändern wird. Schon mit den vorrangigen ökonomischen Harmonisierungen für 1993 geraten die Eurokraten in Zeitdruck. Auch wenn Zölle wegfallen, bleiben - zumindest vorläufig - die Autoprobleme, die verschiedenen Führerscheine, das jeweilige Melderecht, und die autonomen Einkommensteuer- und Sozialversicherungssysteme eines jeden Landes erst recht: So etwas eigenes, ländertypisches, seit Jahrzehnten Gewachsenes gibt schließlich niemand für ein Kunstprodukt wie das gemeinsame Europa auf, die Erfahrungen mit den bisherigen Verhandlungen bestätigen dies.
Und dann werden sich viele noch an die guten alten Zöllner zurücksehnen, die einen am Schlagbaum noch Verbote aussprechen, auf manches aufmerksam machen konnten, bevor man unversehens zum Missetäter wurde. In der schrankenlosen Zukunft hat man bereits Gesetze mißachtet, sogar eine Straftat begangen, wenn man dann von der Polizei erwischt wird. Durch die Fusion der Zwölf wird die Konfusion nur größer. Und so verhalten sich - siehe oben- die vermeintlich dummen, autoritätsfixierten und unselbständigen Autofahrer an der Grenze gar nicht so dumm, sondern instinktiv skeptisch und unsicher, wenn sie Neuland befahren wollen.
Absurdes Europa - als die Grenzen bei Aachen noch Welten trennte, im Krieg und kurz danach, verschafften sich gerade hier viele durch Verschachern und Verschieben von Zigaretten, Kartoffeln und Kleidung volle Keller, auf die sich nach der Währungsreform so wundersam eine fette Nachkriegsexistenz aufbauen ließ. Heute, das uniforme Wirtschaftseuropa vor Augen, bleibt die Aussicht auf Preisangleichungen zum Nachteil fast aller Konsumenten: teureres Diesel in Holland, Schluß mit billigen Wohnungen, preiswertem Kaffee und Tabak in Belgien. Die abstrusen Gesetzeswirrungen aber werden bleiben. Der Binnenmarkt für Bürger ist bis heute nicht in Sicht.
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