: Grenzen des Globalen
Doch, es liegen Welten zwischen China und Deutschland:Das erfuhren die Teilnehmer des ambitioniert angelegten Symposiums „Kulturelles Gedächtnis“ in Berlin
VON ULRIKE MÜNTER
Der chinesische Schriftsteller Mo Yan traf in seiner Eröffnungsrede am ehesten die Dimensionen des Machbaren. Als bescheidenes Ziel der ambitionierten Veranstaltung „China – Zwischen Vergangenheit und Zukunft“, die gerade im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet wurde (taz vom 23. 3.), bezeichnete er es, „den ersten Schritt einer 100.000 Meilen dauernden Reise“ zu tun. Viele weitere Schritte werden also folgen müssen.
Immerhin: Die Bundeszentrale für politische Bildung nimmt sich drei Jahre Zeit, um schwerpunktmäßig die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche in China in den Blick zu nehmen. Und auch Lydia Haustein, Michael Lackner und Christoph Müller-Hofstede, die Organisatoren des Symposiums zum Thema „Kulturelles Gedächtnis“, mit dem der Veranstaltungsreigen inhaltlich unterfüttert wurde, wussten um die fast unumgängliche Gefahr der inhaltlichen Verkürzung. Zusammen mit den zahlreichen Gästen aus Deutschland und China wollte man versuchen, das Problemfeld des kulturellen Gedächtnisses in zwei so verschiedenen Gesellschaften möglichst differenziert abzustecken.
Während die Kunstwissenschaftlerin Lydia Haustein interkulturelle Gemeinsamkeiten der Erinnerungsarbeit stark machte und vorschlug, im Sinne eines „globalen Gedächtnisses“ zu denken, verwies der Sinologe Michael Lackner – seiner Zunft gemäß – auf die fundamentalen Unterschiede zwischen dem europäischen und chinesischen Geschichtsverständnis. Zunächst theoretisch, dann anhand der 52-teiligen Fernsehserie „Auf dem Weg zur Republik“ führte Lackner plastisch vor Augen, dass Geschichte in China als „Kontinuität von 5.000 Jahren“ und „Vergangenheit als ahistorische Ewigkeit“ gedacht wird. Diese für Europäer nahezu unvorstellbare Reichweite der nationalen Identität erklärt unter anderem das große Interesse des chinesischen Publikums an der Historiensoap, die – zwischen Gegenwart und Vergangenheit parallelisierend – bis in die frühe Kaiserzeit um 200 v. Chr. zurückgreift. In der Zusammenarbeit mit Historikern interpretierten die Macher der Serie historische Ereignisse und politische Helden der chinesischen Geschichte neu. Dass etwa die als kaltherzig und skrupellos verschriene Kaiser-Witwe Cixi schuldbewusst und mütterlich auftrat, erregte die Gemüter der chinesischen Zuschauer.
Bei den Symposiumsgästen, die natürlich auch die Gelegenheit nutzten, die Ausstellung chinesischer Foto- und Videokunst im gleichen Haus zu besuchen, war der Grund der Empörung ein anderer: Sheng Qis großformatige Fotoarbeit „Memories (Me)“, die als Cover-Bild des Ausstellungskatalogs und – als Original – im Eingangsbereich präsentiert wird. Die Arbeit zeigt eine Kinderfotografie, die in einer Hand liegt, deren kleiner Finger fehlt. Sheng hatte sich nach der blutigen Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 selbst verstümmelt und den Finger in einem Blumentopf begraben. Die Gelegenheit, eine solche dem westlichen Betrachter doch sehr fremde Form der künstlerischen Stellungnahme im interkulturellen Dialog des Symposiums zu diskutieren, blieb ungenutzt. Ähnlich unerklärt blieben die drei zusammengehörigen und ikonografisch höchst komplexen Fotoarbeiten Wang Qingsongs. Dabei liefern die von Wang unter dem Titel „Past, Present, Future“ auf Sockeln inszenierten Menschengruppen ein sehr differenziertes Bild der gesellschaftlichen Veränderungen in China seit der Kulturrevolution. Doch die Arbeit diente, nur kurz gezeigt, allein als Hintergrundfolie eines Vortrags über die europäischen Positionen des Erinnerungsdiskurses.
Der Pekinger Kunsthistoriker, Galerist und Kurator Leng Lin setzte in seinem Beitrag hingegen entschieden auf die „Sprache des Bildes“. Die gezeigte Installation, ein leerer weißer Raum mit hellblauer Rückwand, sei in Zusammenarbeit mit gleichaltrigen Freunden entstanden, erzählte Lin. In Gesprächen über die Entwicklungen der chinesischen Kunstszene sei ihnen klar geworden, wie sehr sich ihr Lebensgefühl von dem älterer Kulturschaffender unterscheide. Die traumatisierenden Erfahrungen der so genannten Kulturrevolution, Armut und Abschottung vom Rest der Welt sind für sie abstrakte Vergangenheit. Für die Anfang der 1970er-Jahre in China Geborenen stünde nicht „die Geschichte, sondern das Ich“ im Vordergrund. „Uns verbindet keine tragische Grundstimmung oder eine politische Intention. Dementsprechend ist unsere Ästhetik eine andere. Dafür steht dieser Raum“, sagte er.
Nicht die wirklichen zehn Jahre, sondern eigentlich ganze Welten liegen zwischen Leng Lings und Zhang Dalis Kunstverständnis. Die Ausstellung zeigt Zhangs Fotos von Pekinger Abrisslandschaften, mit dem von ihm vielerorts als künstlerische Intervention in Graffiti-Technik aufgesprühten oder als Hohlraum in die Wände geschlagenen Männerprofil. Zhang, geboren 1963, sprach zum Thema „Kulturelle Erinnerung als künstlerische Praxis“ und zeigte eine Reihe retuschierter Pressefotos samt den von ihm in detektivischer Manier zusammengetragenen Originalaufnahmen. Unliebsam gewordene Parteigenossen verschwinden, Hintergrundlandschaften werden ausgetauscht und der schmächtige Volksheld Lei Feng wird kurzerhand von kräftigen Mitstreitern befreit, um unvorteilhafte Vergleichsmaßstäbe zu tilgen. „Ein Foto, das eigentlich eine tatsächliche Begebenheit zeigte, wird so zu einem Gemälde. Als Künstler möchte ich diesem verfälschenden Bildmaterial sein wahres Pendant an die Seite stellen.“
Gibt es ein globales Gedächtnis? Wang Qingsongs Fotoarbeiten, in denen immer wieder das McDonald’s-Logo auftaucht, lassen die Idee aufkommen, dass inzwischen die Erinnerung an einen Kindergeburtstag in einer der Fast-Food-Filialen die Menschen aus West und Ost verbindet. „Allerdings ist dies in China ein Luxus, im Westen ein Armutszeugnis“, wurde dem Künstler bei seinem ersten Deutschlandbesuch schlagartig klar.