: Grammatik des Unmöglichen
Sie schreibt extrem biografisch und intellektuell, die US-Amerikanerin Chris Kraus. Derzeit sind ihre Filme in Berlin zu sehen. Ihr letzter Roman „Torpor“ handelt von wurzellosen Kosmopoliten, die Anfang der 90er nach Berlin und Osteuropa kamen
VON JOSEF STRAU
Sylvie ist die Hauptfigur in „Torpor“, dem neuesten Roman von Chris Kraus. Sylvie wünscht sich ein einfaches Leben. Nach einem Leben als enttäuschte, vielleicht nicht sehr produktive und zugleich nomadische Künstlerin müsste sie sich eigentlich erlauben können, in Zukunft eine andere zu sein, sich ein Leben zu wünschen, in dem von nun an die häuslichen Gegenstände alles zu bedeuten haben. In ihrer Vorstellungswelt, die bisher vor allem von Texten und Büchern geprägt war, ist der Gedanke an ein glückliches Zuhause zunächst vollkommen lächerlich, so lächerlich wie all die anderen, die ganz „normal“ ihren häuslichen Manien folgen. Wirklich kompliziert wird es für Sylvie, als sie ihren Mann Jerome in ihre häuslichen Pläne einbauen möchte. Beide Figuren sind, was Chris Kraus, trotz ihrer unterschiedlichen Sozialisierung, als „wurzellose Kosmopoliten“ bezeichnet. Sylvie und Jerome sind die Pseudonyme für das reale „Paar“ Chris Kraus und Sylvère Lotringer, Kunstkritiker und Verleger von Semiotext(e) in den USA und namensgleich mit den Hauptfiguren von „Die Dinge. Eine Geschichte der sechziger Jahre“, dem Roman von Georges Perec aus dem Jahre 1965.
Lotringer und Perec waren zwei der vielen sogenannten „Versteckten Kinder“ jüdischer Familien während der Naziverfolgung in oder bei Paris. Sie konnten über mehrere Jahre nur in engen Verstecken überleben, nachdem ihre Familien verschwunden oder ermordet waren. Lotringer und Perec trafen sich nach der Befreiung in der Schule und gründeten zusammen mit einigen anderen ehemaligen Versteckten die Zeitschrift „La Ligne Générale“.
Wie Chris Kraus erzählt, waren sie dann ein paar Jahre später „ein Haufen wirklich brillanter, sarkastischer jüdischer junger Männer“. Nur, sie konnten nie über ihre Erfahrung sprechen, auch nicht miteinander. „Sie hassten den damals herrschenden Humanismus, bevorzugten eine absurdistische, kitschige, sarkastische Zuwendung zur Populärkultur. Sie wirkten wie Punks im Vergleich zu den Hippies de Beauvoir und Sartre und ihren Anhängern.“ Perec versuchte später Bücher über Dinge ohne Erinnerung zu schreiben.
Die Stimmung im Umfeld von „La Ligne Générale“ ist im weitesten Sinne beatnikhaft – ausbrechen, nichts werden wollen mit dem Ziel, Freunde zu finden, um alle ihre Ideen gemeinsam zu verarbeiten oder ihr Scheitern, ihre Relativität zu beobachten, um den vorgegebenen Diskurs zu brechen, um die verdrängte oder die versteckte Erzählung zum Sprechen zu bringen. Perec war nicht einfach gegen die herrschenden Regeln: Wenn der Text zu sehr von Regeln und Verboten bestimmt wird, um anerkannt zu werden, ist es besser, selbst neue strenge Regeln hinzuzufügen, den Text, sich selbst, mit neuen Zwängen zu tyrannisieren.
In „Torpor“ erzählt Chris Kraus von Lotringer während des Jahres 1991. Perec erscheint als Echo in der „Torpor“-Grammatik, in der die Vergangenheitsform in die Form des zukünftigen Konditionalsatzes transformiert wird. Sie bewertet diese grammatische Vertauschungsmethode als einen Versuch, die für die „Versteckten“ mit Schrecken besetzte Vergangenheit zu umgehen, sie wird in „Torpor“ speziell dann eingesetzt, wenn es darum geht, die Schwierigkeiten Jeromes zu beschreiben, gegenwärtige Situationen im Verhältnis zu seiner Erinnerung zu adaptieren. Für Chris Kraus wird für ihn, der von sich sagt, er hätte keine oder vielleicht nur 10 Kindheitserinnerungen, unter diesen Bedingungen zum Beispiel das „They would have liked to be rich“ zur Grammatik des von vornherein Unmöglichen.
Der nach 2000 geschriebene Roman handelt im Jahre von Desert Storm, dem Beginn einer sogenannten neuen Weltordnung, auch dem Beginn neonationalistischer oder neokonservativer Kulturen. Vor diesem Zeithintergrund beschreibt sie das zeitgemäße neue Ziel der Hauptfigur Sylvie, sich nicht nur in ihrem gemeinsamen Leben die Welt der häuslichen Gegenstände neu anzueignen, sondern auch Jerome auf der Reise 1991 nach Berlin und Osteuropa dazu zu bewegen, seine Kindheitserfahrungen zum Sprechen, ihn zum Schreiben zu bringen und seine Nichtproduktivität zu überwinden.
Nicht nur Jerome, dem Professor der Columbia University, dem Herausgeber und Theoretiker, dem Verleger eines New Yorker Theorieverlags, auch Sylvie, der Videokünstlerin, will und wird die Häuslichkeit nicht gelingen. Der einzige einigermaßen funktionierende Gegenstand, Vermittler vom alten Nomadismus zur neuen Häuslichkeit ist ihr Hund Lily.
Jerome trifft die ehemaligen DDR-Intellektuellen in ihren alten Häusern, versucht möglichst neue literarische Projekte zu diskutieren. Sylvie muss sich als Frau und Nichtakademikerin möglichst zurückhalten und erklärt in der Folge die mögliche Adoption eines rumänischen Kindes zu dem zentralen Ziel dieser Europareise. Die Erzählungen und Bilder aus der Holocaustvergangenheit überschneiden die Gegenwart. Die Beschreibung der Gegenwart 1991, die Beschreibung der gerade beginnenden Restaurierung der Städte, das neue Bemühen um ihre Domestizierung oder die private Suche Sylvies nach dem eigenen Zuhause, wird oft mitten im Satz unterbrochen und stattdessen die Ereignisse der Vergangenheit erzählt. Diese Unterbrechung der Gegenwart geschieht auch als Folge der Erfahrung der Ostöffnung, als Folge der fast physisch-empirischen Rückkehr in die Zeit des Holocausts, wegen der Konfrontation mit jahrzehntelang stillgelegten Orten und den alltagskulturellen Gepflogenheiten in Osteuropa.
„Torpor“ gelingt es, verschiedene Vergangenheiten in die Realität der Gegenwart zusammenzuführen. Bekanntermaßen ist aber gerade das, was zehn Jahre zurückliegt, verglichen mit allen früheren Vergangenheiten formal am kompliziertesten wiederzugeben. Die Darstellung kultureller Moden von vor zehn Jahren ist für die Beteiligten meist peinlich, unangenehm, weil eigentlich gerade überwunden, will man an ihre spezifischen Figuren nicht erinnert werden. Sie liegen im toten Winkel des Kulturrückspiegels. Chris Kraus ist Spezialistin in der Aneignung von unangenehmen, problematischen, literarischen Prozessen und Methoden. Nicht nur „Torpor“, vor allem ihr erster Roman „I love Dick“ ist in weiten Teilen „confessional“. Der Text zu ihrer Ausstellung in der Berliner Galerie Cinzia Friedlaender wirkt wie ein gekürztes Interview, allerdings ohne Fragen, wie eine Verteidigung, als hätte man sie zum hundertsten Mal wieder gefragt: „Denken Sie, dass Ihre Romane auch als Geständnisse, als persönliche Beichte, als confessions zu verstehen sind?“ Confessions sind aber für sie die simpelste literarische Form, natürlich auch beinahe die dümmste.
Ihr erster Romantext, „I love Dick“, ist ein Konfessionstext, auch Briefroman. Man wird kaum jemanden finden, der ähnlich wie Chris Kraus zugleich kritisch gesellschaftlichen Bedingungen sich widersetzt, als Ausweg aber auch scheinbar „subjektivistische“ oder traditionelle Erzählungsformen sich aneignet – eben wie in der Form des „confessiontext“, allerdings ohne die „billige kathartische Agenda zu reproduzieren“, die den Lebensbeichten oft immanent ist. Wer ist dieses „ich“ im Text und zu wem spricht es? Das ist eine Frage, die nach Chris Kraus jeden Schreiber umtreiben müsste. Bedingung für den, der zur Gegenwart auch über den Umweg der Vergangenheit Stellung nimmt.
Das Feld ihrer Kritik ist der Neotraditionalismus. Während die Kritik am Neokonservativismus sich zumeist auf die Dialektik der Kritik und Verurteilung der anderen beschränkt, den Autor dieser Verurteilung aber im Dunkeln lässt, produziert sich der Text ihrer Kritik am Selbstzweifel, ideen- und verhaltensmäßig, er verfolgt autobiografisch in rücksichtsloser Selbstreflexivität die eigenen Verwandlungen wie die Bedingungen für die sich verändernden Wünsche. Warum aber ist diese Funktion „ich“ trotzdem für viele so schwer zu akzeptieren, obwohl so entscheidend für einen Schreiber, eine Schreiberin, die versucht, „Wahrhaftigkeit“, wie sie es nennt, zu praktizieren? „Wahrhaftigkeit“ ist auch der Begriff, der die Abgrenzung zur Konfession definieren sollte, um sich zu distanzieren, wenn wieder einmal ihre Texte als bloß „ehrlich“ beschrieben werden. Das gilt für sie in Bezug auf literarische als auch kunstkritische Texte. Chris Kraus mochte auch Bob Dylans „Chronicles“, und darin steht geschrieben: „Don’t try to be professional, try to be confessional.“
Über Semiotext(e) in den USA ist „Torpor“ erhältlich. Die Berliner Galerie C. Friedlaender zeigt bis 14. 6. Kraus-Filme: „Plastic is Leather, Fuck You“