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Grabe, wo du stehst

■ Eine Geschichtswerkstatt arbeitet die Alltagskultur in der Bremer Neustadt auf

Bloß nicht in die Neustadt ziehen, werden Neuankömmlinge in Bremen gewarnt und ins Viertel gelotst. Walle ist ja gerade noch akzeptabel, altes Arbeiterviertel mit gewachsenen Strukturen und einer sich langsam belebenden Kulturszene. Alle wollen nach Walle, und obwohl Walle weiter von der Innenstadt entfernt liegt, als die Neustadt, zieht es kaum jemanden auf die linke Weserseite.

„Die Neustadt bleibt links liegen“, sagt Uwe Schubert von der Geschichtswerkstatt Neustadt. Seit vergangenen Oktober versuchen er und Martina Renner die Alltagsgeschichte der Neustadt aufzuarbeiten. Am Anfang des Projektes waren auch einige RentnerInnen gekommen. „Die wollten ihre Geschichte aber nur abladen“, meint Martina Renner. „Standardisierte Antworten haben sie abgegeben“, dann war der Elan erschöpft. Aber vier jüngere Historienfreaks sind dann doch geblieben. Getreu dem Motto der neuen Geschichtsbewegung „Grabe wo du stehst“, haben sie sich zuerst ihren Treffpunkt im „Fuhrpark“ vorgenommen. Der Turm und das Gebäude am Buntentorsteinweg beherbergt seit 1989 die Städtische Galerie und eine Kulturinitiative. Bis 1917 war dort die Brauerei Remmer untergebracht, später der Fuhrpark der Müllabfuhr. Zwei Häuser der alten Brauerei stehen immer noch leer, die Fenster von innen zugemauert, als lauerten Besatzer hinter dem Deich. „In der Stadtplanung kommt die Neustadt nicht vor“, meint Uwe Schubert und sieht darin die historische Linie in der Bremer Behandlung der Neustadt.

Seit Mitte des 17. Jahrhunderts siedeln Menschen mehr oder weniger freiwillig auf dem morastigen Gelände. Bremens Bürger hatten außerhalb der Stadt 345 Morgen Land mit einem Wall gegen Niedersachsen gesichert. Die Einwohner dort sollten die Stadt sichern. Das Bürgerrecht hatten sie aber dennoch nicht: Sie waren den Hanseaten suspekt.

Viel hat sich nicht geändert, meinen die Neustädter GeschichtsforscherInnen. Die Stadt schickt noch immer Neuangekommene auf die linke Weserseite. Nach Kriegsende waren es zunächst die Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, seit den 60er Jahren bevölkern ArbeitsmigrantInnen die Neustadt. Ein weites Forschungsfeld für die gerade an der Oral History interessierten Historiker. In einem „Erzählcafé“ wollen sie ältere Neustädter zusammenbringen und ihnen Erinnerungen entlocken. In den zweiten Stock des „Fuhrpark-Turms“ werden die Redseligen wohl nur mühselig kommen. Die Geschichte des Fuhrparks rekonstruieren die HistorikerInnen im Staatsarchiv und dem Firmenarchiv der Brauerei Beck, die Remmer aufgekauft hatte. Im Mai sollen alte Pläne der Brauerei, Fotos und Tonbänder mit den Erinnerungen von NeustädterInnen ausgestellt werden. Bis dahin hoffen Uwe und Martina auch auf einen eigenen Raum für die Geschichtswerkstatt und das Neustadt-Archiv. ufo

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