: Gorbatschows Spagat
■ Auf dem Parteitag der KPdSU muß die Entscheidung fallen
Noch übt Gorbatschow den politischen Spagat, anstatt sich deutlich auf ein Bein zu stellen. Angesichts der auseinanderdriftenden Flügel der Partei befindet auch er sich in einer Zerreißprobe. Für die Wirtschaftspolitik der Regierung hatte er selbst zwar nur Hohn und Spott übrig, angesichts des Auseinanderdriftens des Imperiums erscheint aber eine Politik, die mit den alten Mechanismen der Macht noch alles zusammenhalten will, hilflos. Wenn Gorbatschow sogar selbst den realen Sozialismus als „eine Variante des autoritär-bürokratischen stalinistischen Systems“ geißelt, um dessen Zusammenbruch es niemandem leid tun sollte, wird es immer unverständlicher, warum der Präsident der Sowjetunion noch nicht deutlich Partei in der Partei ergriffen hat.
Wem könnte denn seine zentristische Politik noch nützen, außer jenem Flügel, der seit Jahr und Tag die Reformpolitik zu hemmen sucht? Der Durchmarsch der Konservativen auf dem Parteitag der Russischen KP hat jedenfalls deutlich den „Aufstand des Apparates“ erkennen lassen, der durch eine Befriedungsstrategie nicht einzudämmen ist. Der vom Politbüro vorgelegte und von Gorbatschow abgesegnete Programmentwurf tut diesem Flügel weniger weh als jenem, der endlich zu radikalen Reformen auch in der Partei gelangen will. Den demokratischen Zentralismus stückweise abzuschaffen, ist eine Illusion. Entweder die Parteistruktur ändert sich, oder alles bleibt beim alten. Namensänderungen für die Gremien, ohne deren Funktionsweise zu verändern, bleiben Makulatur. Die von Gorbatschow geforderte Trennung von Staat und Partei ist das Papier nicht wert, auf dem sie festgeschrieben ist, solange die KPdSU sich nicht aus der Bürokratie, den Betrieben und aus der Armee zurückgezogen hat.
Da nicht anzunehmen ist, Gorbatschow wüßte nicht, um was es geht, bleibt nur jene Erklärung für seine bisherige Zurückhaltung, die er selber nennt: Das „Chaos“, das dem Staate drohe, müsse abgewendet werden. Als ob das nicht schon groß genug wäre. Noch hat er zehn Tage Zeit, sich für das richtige Bein zu entscheiden.
Erich Rathfelder
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