: Gorbatschow geschwächt
Nur 59,2% der Abgeordneten stimmen für Gorbatschow Ligatschow freut sich / Wird der Präsident zum Spielball der Parteien? ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) - So hatte er es sich wohl nicht vorgestellt: mit einer knappen Mehrheit von 1329 der 2245 Deputierten wurde Gorbatschow am Donnerstag Präsident der UdSSR. 495 stimmten gegen ihn, 367 waren gar nicht erst zur Wahl erschienen.
Die Wahl war eigentlich für Mittwoch geplant, aber als Premier Ryshkow am Mittwochnachmittag der Mitwisserschaft an Waffenschmuggelgeschäften beschuldigt wurde, kam erst mal Empörung auf, die den Kongreß für Stunden lahmlegte. Zudem strich der Kongreß die Ausnahmebefugnisse des Präsidenten gründlich zusammen: den Ausnahmezustand kann er nicht, wie ursprünglich geplant, eigenmächtig verhängen.
Um sich abzusichern, hatte Gorbatschow das ZK der KPdSU zusammengetrommelt, um sich als Kandidat vorschlagen zu lassen. Vorher hatte er diese Unterstützung abgelehnt. Bei der ZK-Sitzung waren laut Tass scharfe kritische Worte an Gorbatschow gerichtet worden.
Denkbar schlechte Voraussetzungen also: ein skeptischer Kongreß, eine eingeschnappte Partei und ein Gorbatschow, der fieberhaft um Rückhalt suchen muß. Dann noch das knappe Abstimmungsergebnis: der neue Präsident wird es nicht einfach haben. Politbüromitglied Ligatschow, Wortführer der Konservativen in der KP, wertete die Wahl als „sehr positiv“ und als „großen Erfolg“.
Die um ihr Machtmonopol gebrachte Partei wird jetzt darauf verweisen können, daß ohne sie Gorbatschow wohl nicht gewählt worden wäre. Die Konservativen sehen darin eine Chance, das Präsidentenamt für sich zu vereinnahmen. Generalstabschef Moissejew setzte sich in der 'Krasnaja Swesda‘ am Donnerstag dafür ein, dem Präsidenten die Richtlinienkompetenz in der Militär- und Verteidigungspolitik zu übertragen. Falls Gorbatschow dies annimmt, wird er für abrüstungsmüde Militärs zum Sündenbock; falls nicht, wird er sich fragen lassen müssen, wer es sonst tun soll.
Im Hinblick auf solche und andere Streitereien versuchte Gorbatschow in seiner Antrittsrede, seine neue Rolle als Steuermann der Union mit dem Geist der Versöhnunng zu füllen. In Absetzung von der KP nannte er sich „Vertrauensmann des ganzen Volkes“, nicht einer bestimmten politischen Schicht. Er sah die Bewältigung der Wirtschaftsprobleme als seine dringendste Aufgabe, die mit „Verständigung und Übereinstimmung“ gelöst werden sollte, besonders da „schmerzhafte Maßnahmen“ nötig seien. Danach versprach er, er werde die Macht nicht „usurpieren“. Zu den lautgewordenen Befürchtungen über seinen Machtzuwachs meinte er: „Dafür gibt es keinen Grund, eine Garantie dafür ist die Verfassung“. Er verlangte den Dialog mit Andersdenkenden auch von der KPdSU.
Zuletzt äußerte er sich zu internationalen Fragen. Als vorrangiges Ziel seiner Arbeit auf diesem Gebiet nannte er die Abrüstung. Er befürwortete ein KSZE-Gipfeltreffen in diesem Jahr und meinte, die Solidarität mit der Dritten Welt bleibe unverändert. Besonders betonte er die Zusammenarbeit mit Indien und der VR China.
Nach der Rede machten sich die Volksdeputierten an die Wahl eines neuen Vorsitzenden des Obersten Sowjet. Von den ursprünglich 17 Kandidaten waren bis Redaktionsschluß noch neun übrig. Weder Premier Ryshkow noch Politbüromitglied Jakowlew haben ihre Kandidatur angenommen.
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