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Gorbatschow geht nun ans Eingemachte

■ Die heiligen Kühe der sowjetischen Planwirtschaft stehen zur Disposition / Aus Moskau Alice Meyer

Mehr Selbstbestimmung, mehr Eigeninitiative, mehr Produktivität sind die Stichworte des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow zum Umbau der Wirtschaft. In seiner Rede vor dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU kündigte er die Kompetenzbeschneidung der zentralen Planungsbürokratien an mit dem Ziel, den einzelnen Unternehmen mehr Spielraum zu geben. Daß Gorbatschow damit eine Diskussion eröffnet, die weit über seine eigenen Vorstellungen hinausgehen kann, belegt der Aufsatz des Ökonomen Nikoli Schmelew, der nichts weniger als die ganze Marktwirtschaft fordert

Mit einer großangelegten mehrstündigen Rede trat Generalsekretär Michail Gorbatschow vor das ZK–Plenum, das am 25.6.87 seine Arbeit über „Aufgaben der Partei bei der rakikalen Umgestaltung der Wirtschaftslenkung“ aufnahm. Nichts deutete darauf hin, daß der Erfinder der Perestroika (Umgestaltung) mit ernsthaftigem Widerstand aus den Reihen des ZK und des Politbüros gegen sein Reformkonzept rechnet. Eher fürchtet der Generalsekretär die mehr passiven Beharrungskräfte im weitverzweigten und kaum noch überschaubaren Wirtschaftsapparat der Sowjetunion: kleinliches Administrieren, Festhalten an Privilegien, Scheu vor der Verantwortung, Innovationen einzuführen. „Im Grundsätzlichen“, so Gorbatschow, „sind uns Sinn und Ausrichtung der Reform der Wirtschaftsverwaltung klar: Sie lassen sich auf die Formel bringen: mehr Sozialismus, mehr Demokratie.“ Im Detail, bei der Inangriffnahme konkreter Reformschritte, habe man es jedoch mit zahlreichen Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Arbeitskollektiven, Ämtern und Verwaltungen zu tun. Der Generalsekretär sieht vor allem einen Widerspruch zwischen „der wachsenden Aktivität der Massen und dem noch zählebigen bürokratischen Stil der Tätigkeit auf den verschiedensten Gebieten, den Versuchen, die Perestroika einzufrieren.“ Roß und Reiter nannte der Redner, was die Reformgegner anbetrifft, nicht. Bürokraten im Visier Klar dürfte sein, daß sie vor allem in den Zentralbehörden des Wirtschaftsapparats sitzen, deren üppige Kompetenz– und Personalausstattung in den kommenden Jahren stark eingeschränkt werden soll: im staatlichen Planungskomitee, im Finanzministerium, im staatlichen Preisamt, im Staatskomitee für materiell–technische Versorgung und anderen, ferner in zahlreichen Fachministerien und Staatskomitees, von denen es allein auf Unionsebene etwa 80 gibt. Mit dem Ziel, die - wie sich Gorbatschow ausdrückte - „Kommando– und Administrationsform der Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft“ allmählich zu überwinden, das heißt vor allem, das Hineinregieren der Zentralbehörden in die laufende Wirtschaftstätigkeit der Unternehmen und Betriebe einzuschränken, soll durch den obersten Sowjet der UdSSR demnächst ein neues Gesetz über das staatliche Unternehmen verabschiedet werden. Der Reform–Fahrplan weist hier Ungereimtheiten auf. Das Unternehmensgesetz soll Anfang 1988 in Kraft treten, zu einem Zeitpunkt, an dem höchstens erst zwei Drittel der Industrieproduktion in solchen Unternehmen und Produktionsvereinigungen erzeugt wird, die bereits unter den Bedingungen der „vollen wirtschaftlichen Rechnungsführung“ und Selbstfinanzierung arbeiten. Erst 1989 sollen Industrie, Bauwirtschaft und Transportsektor voll auf den neuen Wirtschaftsmechanismus umgestellt sein. Langjähriger Prozeß Aber Gorbatschow begreift die ganze Reform ausdrücklich nicht als „einmaligen Akt, sondern als Prozeß“. Einzelne Maßnahmen, darunter die angekündigte Preisreform, die weitere Strukturbereinigung des kopflastigen Wirtschaftsapparats, die Zuerkennung von Außenhandelsbefugnissen an mehr Ministerien und Unternehmen als das seit dem 1.1.87 der Fall ist, werden bis weit in die neunziger Jahre hinein andauern. Mittelfristig sollen nicht mehr alle 37.000 Industrieunternehmen, sondern nurmehr „einige Tausend“ große Unternehmensvereinigungen Objekte der unmittelbaren Lenkung aus dem Zentrum und der Einbeziehung in den staatlichen Volkswirtschaftsplan sein. Gorbatschow vermied jeden konkreten Hinweis darauf, welche Zentralbehörden in welchem Umfang an Kompetenzen verlieren werden. Einerseits kündigte er in seiner ZK–Rede die Einführung des Großhandels mit Produktionsmitteln an (Unternehmen sollen durch Geschäfte untereinander auf der Grundlage von „Vertragspreisen“ frei mit Maschinen, Ausrüstungen und Materialien Handel treiben können), andererseits sagte er nicht, was mit der riesigen Behörde „Gossnab“ geschehen soll, die einen Teil dieser Ressourcen bisher in eigener Regie zentral verwaltete und zuteilte. Die Rede des Generalsekretärs enthielt sowohl weitreichende Forderungen nach Selbstorganisation in der Wirtschaft (Wählbarkeit der Leiter, Stärkung der Selbstverwaltung der Betriebe, freiwillige Unternehmenszusammenschlüsse) als auch mehr technokratisch geprägte Vorstellungen (Bedarf an detaillierter Aufzählung und Abgrenzung der Zuständigkeiten von Zentralbehörden einerseits und Unternehmen andererseits, Einführung sogenannter „einheitlich stabiler ökonomischer Normative und Stimuli“ in die Unternehmensplanung). An der Fünfjahresplanung soll nach wie vor festgehalten, die Zahl der vollzugsverbindlichen Plankennziffern aber stark eingeschränkt werden. Vor allem wollen Gorbatschow und das Politbüro davon abgehen, den Betrieben das Produktionsvolumen vorzuschreiben; der Generalsekretär ging scharf mit den Auffassungen ins Gericht, die auf ein Festhalten an dieser Planungsform abzielen. Das Streben nach immer neuen Zuwächsen der Bruttoproduktion habe zur Verschwendung von Rohstoffen und Materialien, zur Aufblähung der Produktionskosten, zur Vernachlässigung der Erzeugnisqualität und letztlich zur Produktion vorbei am Verbraucher geführt. Unter dem neuen Wirtschaftsmechanismus, so deutete Gorbatschow an, müsse unter Umständen eine vorübergehende Wachstumsverlangsamung der Sowjetökonomie in Kauf genommen werden. Bankrott eingeschlossen Gorbatschow erwähnte im Zusammmenhang mit Maßnahmen zur „Demokratisierung der Wirtschaft“ ausdrücklich auch die Forderung verschiedener Spielarten der „kooperativen und individuellen Arbeitstätigkeit“, Staatsbetriebe, die trotz Sanierungsversuchen unrentabel wirtschaften und deren Produkte keinen Absatz finden, sollen künftig dichtgemacht werden können.

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