Goldhagens Völkermord-Studie: Das Einmaleins der Genozide
Daniel J. Goldhagen hat für seine neue vergleichende Studie den Taschenrechner ausgepackt. Hätte er ihn besser mal stecken lassen. Sein Body Count relativiert die Geschichte.
Bereits 1996 wurde der amerikanische Politologe Daniel Jonah Goldhagen mit seiner zunächst äußerst kontrovers diskutierten Dissertation über "Hitlers willige Vollstrecker" zum internationalen Star. Seine Vortragsreise durch Deutschland geriet - zur Überraschung der beleidigten einheimischen Historiker - zum wahren Publikumstriumph.
Fast alle hatten Goldhagens Bestseller damals verrissen und doch nicht verhindern können, dass es zu einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsdebatten kam, die der junge Wissenschaftler mit seiner These vom Holocaust als "deutschem Projekt", als Ergebnis eines "eliminatorischen Antisemitismus" entfacht hatte.
Was besonders die führenden deutschen Geschichtspolitiker so aufbrachte, war Goldhagens simple Feststellung, dass die deutsche Gesellschaft in großer Breite die Schoah unterstützt habe, weil sie den Massenmord befürwortete: Nicht irgendwelche abstrakten Strukturen, die böse Moderne oder gar eine ominöse "kumulative Radikalisierung" (Hans Mommsen) habe die europäischen Juden umgebracht, sondern ganz konkret die Deutschen. Mit Spannung durfte man also Goldhagens seither angekündigte Studie zur vergleichenden Genozidforschung erwarten, deren Niederschrift unter anderem durch sein 2002 erschienenes, vergleichsweise enttäuscht aufgenommenes Buch "Die katholische Kirche und der Holocaust" hinausgezögert wurde.
Nun aber ist das voluminöse, über 650-seitige Buch "Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist" endlich da, und es greift noch einmal die erwähnten früheren Argumente auf, um sie nunmehr hemdsärmelig auf die gesamte Weltlage anzuwenden. Das Buch ist von großem Selbstbewusstsein und dem Impetus geprägt, konkrete Wege aufzuzeigen, wie Völkermörder in aller Welt künftig frühzeitig dingfest und unschädlich zu machen sein könnten. Dazu breitet der Autor zunächst einmal mit großer Kelle Gräuelgeschichten aus aller Welt aus, um die Leser wie auch schon in "Hitlers willige Vollstrecker" betroffen zu machen, indem er ihnen das faktische Geschehen eines Massenmordes, wie etwa dem an 800.000 Tutsi 1994 in Ruanda verübten, als Phänomen des "Eliminationismus" nahebringt.
Man solle einmal überlegen, wie es wäre, "einen Mann eigenhändig zu töten, abzuschlachten, mit der Machete zu zerhacken. Oder eine Frau. Oder ein Kind. Sie schlagen zu. Schlagen noch einmal zu. Schlagen wieder und wieder auf ihn ein. Stellen Sie sich vor, Sie hören, wie der Mensch, den Sie gerade umbringen, bettelt, um Gnade fleht, um sein Leben. Stellen Sie sich vor, Sie hören die Schreie Ihres Opfers, während Sie auf es einschlagen, es ,zerschlitzen', wieder auf es einhacken und immer wieder, oder die Schreie eines Jungen, wenn Sie auf seinen achtjährigen Leib einhacken".
Menschen täten so etwas nur, folgert Goldhagen, wenn sie es wollten, keinerlei Strafverfolgung fürchteten und staatliche Führer dies anordneten. Goldhagen räumt selbst ein, teilweise vor gewissen Fallgeschichten gezögert zu haben, die das Buch streckenweise zu einer äußerst quälenden Lektüre machen.
Wobei er sich den vielleicht beunruhigendsten Teil für den Schluss aufhebt: eine heftige Polemik gegen den "politischen Islam" eines Ahmadinedschad, der Hisbollah oder der al-Qaida, den er für die "geschlossenste und mörderischste Ideologie seit dem Nationalsozialismus" hält. Deren "kompromissloses politisches Sendungsbewusstsein, gepaart mit Kernwaffenbesitz, könnte dazu führen, dass uns der fürchterlichste Fall von Massenmord erst noch bevorsteht", warnt Goldhagen.
Und das nicht einmal zu Unrecht. Goldhagen weist ausdrücklich darauf hin, was in der "Charta der Hamas" zu lesen steht. Mit einem "Feuerwerk vorwurfsvoller Fantasien" beschuldige die Hamas darin immer wieder "in NS-Manier" die Juden, die Welt zu zerstören, um im Gegenzug ihre kompromisslose Vernichtung zu fordern, in Israel und auf der ganzen Welt.
Trotzdem ist das Buch misslungen. Eine intensivere Berichterstattung der Medien anzumahnen, die UNO als gemeingefährliche Ansammlung tyrannischer Völkermordstaaten abzuwatschen und das Völkerrecht zugunsten künftiger robuster Präventiv- und Interventionskriege in aller Welt herabzustufen ist nicht eben neu. Joschka Fischer etwa, der als deutscher Außenminister bereits 1999 mit einer solchen Argumentation den Angriffskrieg gegen Serbien als einen solchen "gegen Auschwitz" rechtfertigte, würde sofort begeistert zustimmen.
Das Hauptproblem der Studie ist aber ihre "Geschichtsschreibung mit dem Taschenrechner", wie sie der Historiker Wolfgang Wippermann in seiner Kritik des "Schwarzbuchs des Kommunismus" von Stéphane Courtois 1998 anprangerte und gegen die er seinerzeit noch Goldhagen ins Feld führen konnte. Dies geht nun nicht mehr: Denn auch Goldhagen ergeht sich in einer phasenweise nur noch kopflos zu nennenden vergleichenden Aufzählung von Genoziden und Body Counts, wobei er manchmal sogar mit den Ziffern durcheinanderkommt und deshalb gleich nur noch nebulös von "zigmillionen" Toten spricht.
Auch wenn er die Einzigartigkeit der Schoah hier und da immer noch pflichtschuldig betont, stellt Goldhagen in seiner Studie den sowjetischen Gulag, Milosevics Massaker, ja selbst die chinesische Politik in Tibet und die Vertreibung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg wiederholt direkt daneben und widerspricht sich damit selbst. Gerade die Besonderheiten einzelner Genozide wären aber viel genauer zu analysieren, um einer solchen unweigerlich geschichtspolitischen Relativierung zu entkommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands