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Gnade vor Recht

Ksenia Lutskina wurde in Belarus zu acht Jahren Gefängnis verurteilt – weil sie ihrem Beruf als Journalistin nachging. Was sie nun nach einem Gnadengesuch in Freiheit zu erzählen hat, geht alle an

Gilt in Belarus als „Volksverräterin“: Journalistin Ksenia Lutskina in Berlin 2025 Foto: Ebrahim Noroozi/ap

Von Glafira Zhuk

Noch arbeitet Ksenia Lutskina nicht. Sie braucht noch Zeit, um sich von der Haft zu erholen. Acht Jahre lang sollte die heute 41-Jährige im Gefängnis verbringen, urteilte das Regime Lukaschenko. Die Führung in Belarus hat etwas gegen Journalistinnen. Doch dann wurde sie nach der Hälfte der Zeit begnadigt – und im März aus Belarus evakuiert. Heute lebt die Journalistin mit ihrem 15-jährigen Sohn in Berlin.

Am 22. Dezember 2020 liefen die landesweiten Proteste schon seit Monaten – Zigtausende prangerten die gefälschte Präsidentschaftswahlen an. An diesem Tag hatte Ksenia Lutskina gerade Geschenke für ihren Sohn gekauft, da kamen fünf Männer auf sie zu. Einer schlug ihr ins Gesicht, dann wurde sie gewaltsam in ein Auto gezerrt. Lutskina schrie um Hilfe, aber „alle Passanten waren plötzlich verschwunden“, erinnert sie sich. Man brachte sie zu ihrer Wohnung, die durchsucht wurde. „Niemand hat mich über meine Rechte aufgeklärt, es gab keinen Durchsuchungsbefehl, keiner der Männer hat sich ausgewiesen“, sagt Lutskina. Die „Silowiki“ genannten Einsatzkräfte hätten nach einer halben Million Euro gesucht, die sie angeblich für die Gründung eines alternativen, unabhängigen Nachrichtensenders in Belarus erhalten habe, erzählt die Journalistin.

Den Sender gab es tatsächlich, Lutskina hatte ihn mit einigen anderen Journalisten gegründet und bereits erste Aufnahmen gemacht. Das Geld aber gab es nicht. „Als sie kein Geld in meiner Wohnung fanden, waren sie erstaunt. Offenbar konnten sie sich nur schwer vorstellen, dass jemand umsonst arbeitet. Aber meine ehemaligen Kol­le­g*in­nen und ich haben so für unsere Ideen gebrannt, dass wir es damals ohne Bezahlung getan haben. Wir wollten uns erst später über Abos und vielleicht Werbung finanzieren.“

Nach der Hausdurchsuchung wurde Lutskina zur Finanzermittlungsbehörde in Minsk gebracht. Die Behörde ist zuständig für die Aufdeckung, Verhinderung und Untersuchung von Wirtschafts- und Finanzkriminalität. Zwei Tage lang wurde sie verhört: Einer der Ermittler habe Mitleid gezeigt und ihr Wasser angeboten, der andere habe sie als „Volksverräterin“ beschimpft.

Danach wurde sie ins berüchtigte Okrestina-Gefängnis gebracht, wo Demonstrierende geschlagen werden. Es ist bekannt als „Isolationsgefängnis“ und als Symbol der Folter.

Laut Lutskina gab es weder Essen noch Wasser. „Die Wände in der Okrestina waren vollgeschrieben mit Gedichten und Liedern in verschiedenen europäischen Sprachen.“ Schlafen konnte sie nicht. „So las ich immer wieder, was dort an den Wänden stand. Das gab mir Kraft, weil ich verstand: Ich bin nicht die Erste hier. Und leider auch nicht die Letzte.“

In der Anklageschrift hieß es, die Journalistin habe „mit der Absicht gehandelt, die Autorität der Staatsgewalt zu untergraben“. Als Beweis präsentierten die Ermittler erste Aufnahmen für das alternative Fernsehen. Interviews mit Belarussen, die wegen Repressionen aus dem Land geflohen waren, oder Videos, in denen eine Journalistin Menschen danach fragt, was sie von der derzeitigen rot-grünen Flagge halten und der weiß-rot-weißen, dem Symbol der Opposition.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember wurde Lutskina ins Untersuchungsgefängnis in Minsk gebracht. Wurde gedemütigt: „Die Frau, dich mich durchsuchte, zog grinsend am Gummi meines BHs und ließ ihn dann abrupt wieder los. Das traf mich wie ein Schlag in den Rücken. Sie sah mir in die Augen und sagte mit einem Lächeln: ‚Na, spürst du das, du Miststück?‘“

Lutskina kam in eine Durchgangszelle, wo normalerweise Häftlinge untergebracht werden, bevor sie in psychiatrische Einrichtungen verlegt werden. „Mit psychisch instabilen Menschen in einer Zelle zu leben, ist eine besondere Prüfung“, meint Lutskina. In der Situation half es, an ihren Sohn zu denken. Während sie in der Zelle saß, verlangte er, dass der Weihnachtsbaum, den sie vor der Festnahme besorgt hatten, in der Wohnung bleiben soll. Alles sollte bleiben wie an dem Tag, an dem Lutskina „abgeholt“ wurde. „Das war seine Art zu warten“, erklärt Lutskina. Das „Denkmal“, wie sie es nennt, blieb zweieinhalb Jahre in der Wohnung – dann konnte Lutskina ihren Vater und ihren Sohn überzeugen, den Baum wegzuräumen. „Zuerst war er ein Symbol der Hoffnung, später eine ständige Wunde. Eine Erinnerung an die ‚Verbrechen‘, die ich nicht begangen hatte.“

Silvester 2020 wurde bekannt, dass man Lutskina wegen Steuerhinterziehung angeklagt hatte. Das Verfahren wurde später eingestellt und ein neues eröffnet – wegen „Verschwörung zur Erlangung der Staatsmacht“.

„Bei jedem Verhör war es die selbe Rhetorik: ‚Haben Sie Ihre Heimat verraten?‘ ‚Sie sind eine Volksfeindin.‘ ‚Sie haben das Vertrauen der Menschen zerstört.‘ Das wiederholte sich Tag für Tag. Sie haben alles als Druckmittel verwendet: Emotionen, Vergangenheit, Beruf. Und sie haben immer noch nach diesen unglückseligen 500.000 Euro gesucht. Die es nie gegeben hat.“

Am 25. März 1918 erklärte die Belarusische Volksrepublik erstmals ihre Unabhängigkeit und machte die weiß-rot-weiße Flagge zu ihrem Symbol. Am 25. März 2021, dem „Tag der Freiheit“, bemerkten Ksenia Lutskina und ihre Mithäftlinge im Untersuchungsgefängnis, dass sich die Atmosphäre plötzlich geändert hatte: Die Wachen bereiteten sich auf einen möglichen Sturm vor. Das Sicherheitspersonal lief laut Lutskina in kugelsicheren Westen herum, mit gezückten Waffen. „Am Ende des Tages stellten sie das Radio auf laut – um sowohl unsere Gespräche als auch die Stille zu übertönen. Aber plötzlich wurden in einer Zelle belarussische Lieder gesungen. Sofort brüllten die Wachmänner, sie sollten aufhören zu singen. Dann begann eine andere Zelle.“ Die Gefängniswärter seien von Zelle zu Zelle gerannt, um dagegen vorzugehen. Aber wir hörten nicht auf. In jeder Zelle saßen auch politische Gefangene: zwei oder drei von sechs. Aber mit der Kraft dieses gemeinsamen Willens haben wir den Wachen klar gemacht: Wir sind nicht zu brechen.“

Zwei Jahre nach ihrer Verhaftung wurde Lutskina in eine Strafkolonie überführt. Anderthalb Jahre hatten die Ermittlungen gedauert, dann folgte eine mehrmonatige Wartezeit: auf Staatsanwaltschaft, Gericht, Berufung. Der Gerichtsprozess dauerte einen Monat.

„Wir wurden nach besonderen Regeln vor Gericht gebracht“, sagt Lutskina – und erzählt vom 26. Oktober 2022. „Wir Frauen wurden an diesem Tag aus dem Untersuchungsgefängnis geholt, die meisten von uns, 24 Frauen, waren politische Gefangene.“ Laut Lutskina sollten die Hände mit Handschellen hinterm Rücken fixiert werden. „Doch es gab gar nicht genügend Handschellen. Zwei Frauen waren zwar wegen Mordes verurteilt, aber trotzdem sagte der Wachmann zu mir und einer anderen Journalistin: ‚Mädls, die Handschellen sind für euch.‘ “

12 Stunden lang seien Häftlinge aus verschiedenen Gefängnissen gesammelt worden, eine „Rundreise durch Belarus“ wie Lutskina sagt. Im verqualmten Zug, der Journalistin gegenüber eine Frau, die wiederholt straffällig geworden war. „Sie sah mich an und fragte: ‚Was ist los in diesem Land? Bist du gefährlicher als ich?‘ Ich antwortete: ‚Wahrscheinlich ja.‘ “

Als sie die Tür öffneten, bin ich ohnmächtig in den Schnee gefallen

Ksenia Lutskina

Nach dem Gerichtsurteil verschlechterte sich Lutskinas Gesundheitszustand stark. Sie wurde in einem gepanzerten Mannschaftswagen mit 27 anderen Frauen in die Strafkolonie gebracht. „Als sie dann die Tür des Wagens geöffnet haben, bin ich ohnmächtig in den Schnee gefallen, ich hatte Krämpfe.“ Erst in der Strafkolonie erfuhr die Journalistin: Bei einer Krankheit wie ihrer, einem Gehirntumor, darf keine Haftstrafe verhängt werden. Das zeigte sich auch in der Ausstattung vor Ort: „Der Arzt im Untersuchungsgefängnis hatte nur Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin. Kein MRT, das ich jedes Jahr brauche, nicht die rudimentärsten Check-ups.“ Auch wenn die Ärzte versucht hätten, ihr zu helfen: „Ohne richtige Untersuchungen konnten sie mir keine Medikamente verschreiben. Es war beängstigend, so hilflos zu sein.“

Lutskina musste in der Näherei arbeiten, später – nach einer Lungenentzündung 2023 – aus hartem Synthetikgarn Duschschwämme stricken. 22 Stück am Tag. „Das ist körperlich unmöglich“, sagt Lutskina. Diese Arbeit ist gesetzlich verpflichtender Teil der ‚Besserung‘ in Belarus. Die Arbeitswochen haben sieben Tage, jede Schicht sieben Stunden und vierzig Minuten. Dazu kommen aber weitere Stunden, die theoretisch freiwillig, praktisch aber verpflichtend sind: „Wir haben das Koloniegelände aufgeräumt, Gemüse umgelagert, Bauarbeiten gemacht. Bei einer Überschwemmung schöpften wir Wasser aus dem Keller. Im Winter mussten wir Schnee räumen“, sagt die Journalistin. Aufstehen um sechs, Licht aus abends um zehn. Sporthalle, Gemeinschaftsräume und Kirche durften politische Häftlinge nicht benutzen.

Am 20. August 2024 kam Ksenia Lutskina auf ein von Lukaschenko unterzeichnetes Gnadengesuch frei. Zuvor hatte es die Journalistin zweimal abgelehnt, ein solches Gesuch zu stellen. „Die anderen Häftlinge sagten: ‚Wenn sie zu dir kommen: willige ein. Das ist kein Verrat, das ist Überleben.‘ Es fiel mir schwer, zu unterschreiben, aber es nicht zu tun, hätte den Tod bedeutet.“

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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