Glückwunsch, Neukölln!: Ich geb dir hundert, Alter!
Heute vor 100 Jahren wurde Neukölln, was es ist - jedenfalls dem Namen nach. Sieben Short Stories über den berüchtigsten Kiez der Stadt
Pommes klauen
Am komischsten finde ich dieses Gerede über Neukölln als Problembezirk und Hochburg der Kleinkriminalität. Ich bin in Rixdorf aufgewachsen, in einer Seitenstraße vom Richardplatz. Viele Spielplätze, Hunde und Kioske mit billigen Süßigkeiten - was will man mehr als Kind? Auch später, als ich dort Abi gemacht habe, habe ich irgendwie nie diese gefährlichen Leute getroffen, die in Neuköllnreportagen gezeigt werden, mit Klappmessern und so. Keine Ahnung, wo die alle wohnen. Das Schlimmste, was mir mal passiert ist, war an der Imbissbude am Richardplatz. Da hab ich mir nach der Schule Pommes geholt, ich liebe die Pommes dort. Ich wollte gerade anfangen zu essen, da kamen zwei Jugendliche zu mir - ich weiß gar nicht, ob mit oder ohne Migrationshintergrund - und fragten mich nach der Uhrzeit. Und als ich gerade meine Uhr rausholen wollte, schnappten die sich jeweils eine Pommes und rannten weg.
Margarete Stokowski wohnt heute in Kreuzberg. Aber Hasenheide, direkt Grenze Neukölln.
Mehr Problemboys, bitte!
Samstag ist im Schillerkiez Markttag. Zehn Stände, mehr nicht. Eigentlich ein bisschen zu bio für die Ecke, noch: Bio-Obst, Bio-Bäcker, Bio-Kaffee. Wären da nicht der Falafel-Mann. Und die Jungs von Outreach. Problemboys alter Schule, gegelte Haare, die da eines Samstags ihren Stand aufbauten. "Hast du Balkon? Willst du Vogelhäuschen?" Hatten die harten Burschen selbst zusammengeleimt. Gegen diesen Charme der Altneuköllner sahen die kaffeeschlürfenden Hipster alt aus. Es ist noch nicht alles verloren.
Konrad Litschko ist seit sechs Jahren Neuköllner. Zog in den Schillerkiez, als die Flieger noch am Küchenfenster vorbei auf dem Flughafen Tempelhof landeten. Heute landet er dort zum Grillen.
Rixdorf für Rosinenpicker
Ein Termin steht jedes Jahr dick im Kalender, immer am zweiten Dezemberwochenende. Dann und nur dann ist Rixdorfer Weihnachtsmarkt am Richardplatz. Lauter gemeinnützige Einrichtungen, heimeliges Licht aus Gasleuchten, Kamele für die Kinder. Zweieinhalb Jahre war Neukölln mal unser Zuhause. Wer uns kopfschüttelnd mit Rütli-Schule und Chaos konfrontierte, dem sagten (und sagen) wir: Neuköllner Oper mit klasse Opern und Musicals - neuestes Highlight "Yasou Aida" -, Café Rix, megagroße Schnitzel im "Louis" am Richardplatz, Joggen am Kanal. Unser Blick auf Neukölln war reinste Rixdorfer Rosinenpickerei. Wir mussten weder Kinderwagen um Hundekot rumbugsieren noch uns um Kitaplätze Gedanken machen. Wohnen im fünften Stock? Egal. Heute ist das anders. Schön aber ist: Die Rosinen können wir weiter picken, auch von Zehlendorf aus.
Stefan Alberti verließ Neukölln 2004 Richtung Zehlendorf
Der Ernst des Lebens
Ich wohne in Rudow, dem mit Abstand zartesten, grünsten Viertel Neuköllns. Aber in meinem behüteten Kokon kann ich nicht bleiben, meine Schule liegt im berühmt-berüchtigten Nordneukölln. Und so muss ich mich jeden Tag mit der U-Bahn-Linie 7 zehn Stationen in den Norden hineinwagen. Immer ist es ein Abstieg. Man betritt die U-Bahn an einem mehr oder weniger sauberen Ort - und nach einer Viertelstunde Fahrt kann man beim Aussteigen nicht glauben, wo man gelandet ist. Drogendealer und Betrunkene warten schon auf einen. Man steigt aus, läuft die Straße entlang und atmet den süßen Duft von Hundekot und Abgasen ein. Damit will ich Neukölln keinesfalls verteufeln. Denn wer hier zur Schule geht, bekommt von Kindheit an den Ernst und die Ungerechtigkeit des Lebens zu spüren. Genau das, was ein wilder Teenager braucht, um nicht völlig abzuheben.
Fiarra Pudritzki lebt seit ihrer Geburt vor 14 Jahren in Neukölln. Derzeit ist sie Schülerpraktikantin in der taz.
Sonnenallee Blues
Ach, die Sonnenallee. Vor 21 Jahren zum ersten Mal da gewohnt. Ecke Weichsel, Hinterhaus, ohne Telefon und Klingel. Um acht wurde vorn abgeschlossen. Einsame Zeiten. Und arme. Hatte kein Geld, um was in dem Feinkostgeschäft nebenan zu kaufen, das aussah wie original Jahrhundertwende. Fischbuletten gabs da und Gurken aus dem Fass. Der Inhaber, weißer Kittel, stand in der Tür und schaute traurig, weil keine Kundschaft mehr kam.
Muss heute noch dran denken, wenn ich vorbeikomme. Ist jetzt ein arabischer Obsthändler. Auch sonst hat sich wenig gehalten in der Gegend, nur das Pflegeheim und Blumen Weyer. Denen gebe ich noch ein paar Jahre.
Ein bisschen was verdienen tu ich inzwischen. Für den superleckeren Dürüm Döner von Didim, unten an der Erkstraße, reicht es allemal. Aus dem Steinofen! Mit Kartoffeln! Hätte ich jetzt nicht diese erhöhten Blutfettwerte. Neukölln ist was für ganz Harte.
Claudius Prößer, insgesamt 10 Jahre Neukölln. Heute Tegel.
Gestalten vorm Puff
Als ich Mitte der Achtziger nach Neukölln zog (erst Nogat-, dann Pflügerstraße), war der Bezirk im Kommen. So hieß es jedenfalls. Super, dachte ich, muss ich mich nicht ärgern, dass ich in Kreuzberg nichts gefunden habe. Und dann das: Jeden Morgen weckten mich die Alkis am Glascontainer, und vorm Puff im Nachbarhaus nervten komische Gestalten. Ich bin dann irgendwann weggezogen, weil Neukölln doch nicht im Kommen war. Da, wo ich erst mal landete, in der Dresdener Straße am Kotti, wars noch schlimmer.
Uwe Rada ist heute Pankower.
Mein kleiner Planet
Seit drei Monaten ist der Reuterkiez mein Zuhause. Um die Seele von "Kreuzkölln" tobt seit einiger Zeit ein erbitterter Kampf. Der Norden des Kiezes ist ein Außenposten der Kreuzberger Kneipenszene, voller Erasmus-Studenten und Wochenend-Touris. Der Süden hingegen trägt zum Ruf dieses Stadtteils als sozialer Brennpunkt bei. Hier nutzen ab und zu Heroinabhängige die Toiletten des Albert-Schweitzer-Gymnasiums, um sich einen Schuss zu setzen. Aber zwischen den beiden Polen meines kleinen Planeten gibt es eine Menge zu entdecken: Im "Café Süß" am Hermannplatz bekommt man schon ab 3.30 Uhr Frühstück, bei "Gel Gör" am Kottbusser Damm gibt es die besten Köfte der Stadt und an der U-Bahn-Station Schönleinstraße gefälschte BVG-Fahrscheine.
Aleksandar Sarovic, Praktikant
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