■ Glosse: Stammtischkultur
„In unserem Land gibt es zu viele Ausländer, Asylanten, Arbeitslose, Sozialschmarotzer und Chaoten.“
Liebe ausländische Mitbürger!
Werden Sie Mitglied an einem der Millionen Stammtische im Land! Erst wenn Sie in einer dieser in regelmäßigen Abständen tagenden Herrenrunden sitzen, sind sie wirklich in Deutschland angekommen. Alles andere ist Augenwischerei. Sie können so viele Zeitungen lesen wie Sie wollen, über das wirkliche Denken und Fühlen von uns Deutschen erfahren Sie darin nichts. Sie sind nur ein von uns mühsam errichtetes Spiegelbild, damit die anderen uns sehen, wie wir es gerne hätten.
Traditionell ist der Stammtisch der Ort, an dem wir Deutschen das offene, gesellschaftliche und politische Gespräch pflegen – frei von Tagesopportunität, frei von den Zwängen politischer Korrektheit, frei von internationaler Beobachtung.
Der Stammtisch ist das, was wir insgeheim unter freedom of speech verstehen – halböffentlich und etwas klandestin. Hier wird gesprochen, was nicht unbedingt für fremde Ohren bestimmt ist. Das ist der Grund, weshalb sich in Gasthäusern die Stimmen senken, wenn Fremde in den Astralkreis eines Stammtisches eintreten.
Der Stammtisch ist der Ort, an dem der einzelne sich mit der vorausstürmenden Modernen versöhnt. Unter der enthemmenden und euphorisierenden Wirkung alkoholischer Getränke betreiben wir mentale Hygiene, jeder darf er selbst sein, ohne daß die Worte auf die Prüfwaage gelegt werden. In der Bruderschaft des Stammtisches befreit sich der Deutsche von nationalen Traumata, von geschichtlicher Last, von kollektiven Minderwertigkeitsgefühlen. Der öffentliche Diskurs wird „gegen den Strich gebürstet“, und der Deutsche tauscht mit Vorliebe aus, was er über den Neger im allgemeinen und den Juden im besonderen denkt und schon immer sagen wollte.
Lassen Sie sich nicht von abfälligen Reden über „Stammtischbrüder“ und „Stammtischniveau“ irritieren. Es ist nichts als der psychologisch zwar erklärbare, aber unfaire Versuch der Aufgeklärten und Gebildeten des Landes, ihre Schattenseiten des Denkens und Lebens auf die bildungsferneren Schichten oder gar das rechte Milieu abzuwälzen. Wie sie auch heißen mögen, unsere Prominenten des intellektuellen und politischen Lebens, sie alle haben ihren Stammtischtermin im Zeitplaner.
In zwanglosen Kneipenrunden wird kühn vorgedacht, was dann hin und wieder als Tabubruch in einer unserer meinungsführenden Wochenzeitungen nachzulesen ist. Eberhard Seidel-Pielen
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