: Globalisierung auf Chinesisch
Auf den Gesundheitstagen im Estrel-Hotel informierten Verbände und Organisationen über den Stand der Heilmethoden in der alternativen Medizin. Insbesondere die traditionelle chinesische Medizin liegt im Trend
„Folge der Stimme deines Körpers“, hat die Therapeutin gesagt. Also legt sich das Mädchen mitten im Zimmer des Estrel-Hotels in der Sonnenallee platt auf den Bauch. Das ist die bequemste Haltung, die sie kennt. Shiatsu-Therapeutin Sabine Wilhelm hockt sich neben sie und drückt mit Handballen und Daumen auf bestimmte Punkte ihres Rückens. „Meridiane, das sind Energieleitbahnen, die den ganzen Körper durchziehen“, erklärt sie den um sie herumsitzenden Frauen. „Wenn ich entlang diesen Meridianen sanften Druck ausübe, können sich Blockaden lösen, der ganze Energiefluss im Körper wird angeregt und harmonisiert.“
Immer mehr Menschen suchen genau das: eine ganzheitliche Heilkunde, bei der Körper und Seele gleichermaßen behandelt werden. Die vom Estrel-Hotel veranstalteten Gesundheitstage zu traditioneller und naturheilkundlicher Medizin waren daher gut besucht. Über 1.500 Berliner informierten sich am Wochenende bei 43 Verbänden und Organisationen alternativer Medizin über ihre Arbeit. Wie bei Sabine Wilhelm und der Shiatsu-Schule Kreuzberg konnten Besucher an Workshops teilnehmen oder Vorträge hören, um einen Einblick in die verschiedenen Verfahren zu bekommen.
Die Berliner liegen mit ihrem Interesse an alternativer Medizin voll im Trend. Der ganze Sektor boomt: Heilkräuter und auch Ärzte aus China sind zu einem Exportschlager des asiatischen Landes geworden. Das englische Fachblatt Lancet spricht sogar von einer Globalisierung der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), die inzwischen auch an deutschen Universitäten gelehrt wird.
„Die Nachfrage ist zurzeit enorm“, berichtet Clemens Prost, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Medizin, die die TCM auf den Gesundheitstagen vertritt. Wenn er nicht manchmal auch Leute wegschicken würde, hätte er in seiner Praxis eine Warteliste von anderthalb Jahren, erzählt der Arzt.
Prost befürchtet jedoch, dass der Boom zum Etikettenschwindel verleitet: „Wegen des hohen Bedarfs ist TCM im Moment eine Marktlücke. Viele nennen sich daher Ärzte chinesischer Medizin, obwohl sie nicht gut genug ausgebildet sind.“
Wer auf den Gesundheitstagen was zu bieten hatte, konnten die Besucher ausprobieren, von Klangschalenmeditation über kreativen Tanz bis zu einer Shiatsu-Schröpfmassage. An den Ständen gab es jede Menge Broschüren und auch einen Schluck Ginseng. Nach Angaben des Herstellers erhöht der heilsame Wurzelsaft nämlich die Lern- und Konzentrationsfähigkeit. Die hatten die Besucher bei der Infomenge auch dringend nötig.
ANTJE LANG-LENDORFF
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