: Gleichberechtigung als virtuelle Realität
Die Beschränkung auf Bürgerrechtspolitik führt die Lesben- und Schwulenbewegung in die Sackgasse, meint die US-Autorin Urvashi Vaid. In der Debatte um den richtigen Weg plädiert sie für ein breites Bündnis der Minderheiten ■ Von Dorothee Winden
Sollen Lesben und Schwule als „Bürgerrechtler“ kämpfen? Geht es um Integration oder um eine kulturelle Transformation der Gesellschaft, an deren Ende ein grundlegender Wertewandel, die Akzeptanz von Homosexualität steht? Sollen sich Lesben und Schwule auch gegen Rassismus und Sexismus stark machen oder nur eigene Ziele verfolgen? Nicht nur in den USA, auch in Deutschland ist die Bewegung in diesen Fragen gespalten.
Urvashi Vaid spricht in ihrem Buch „Virtual Equality“ (Virtuelle Gleichberechtigung) der Bürgerrechtspolitik nicht ihre Berechtigung ab, benennt aber klar ihre Grenzen. Sie habe nur teilweisen Erfolg, weil sie die Homophobie, die Wurzel der Ungleichbehandlung, unberührt lasse. Ohne ein verändertes Bewußtsein breiter Kreise stünden die erkämpften Rechte jedoch immer wieder zur Disposition.
Vaid analysiert, warum das in den letzten Jahrzehnten Erreichte nur den Namen virtuelle Gleichberechtigung verdient und zieht Vergleiche zu Computerwelten: „In der virtuellen Realität erscheint die Simulation als real.“ Zwar hat die US-Lesben- und Schwulenbewegung in den 80er Jahren an Boden gewonnen und erhoffte sich von Clintons Wahlsieg 1992 den Durchbruch. Den hochfliegenden Erwartungen folgte jedoch die große Ernüchterung.
Nachdem zwischen 1982 und 1995 in mehreren Bundesstaaten Antidiskriminierungsgesetze für Lesben und Schwule verabschiedet wurden, sehen sich diese seit Beginn der 90er Jahre mit einer starken Gegenbewegung konfrontiert. Auf Initiative der religiösen Rechten sind in vielen Bundesstaaten Volksentscheide gegen solche Gesetze angestrengt worden, größtenteils mit Erfolg. In der Debatte um traditionelle Werte (family values) sind die Lesben und Schwulen in die Defensive geraten.
Die Gründe sieht Vaid vor allem in der mangelhaften Schlagkraft der Lesben- und Schwulenorganisationen. Während es in Washington D.C. einen Wasserkopf an nationalen Lobby-Organisationen gebe, existierten in den Bundesstaaten meist nur lokale Gruppen, die kaum vernetzt seien. Die nationalen Lobby-Organisationen wiederum agierten völlig losgelöst von der Basis. Als Beispiel nennt Vaid die gescheiterte Kampagne gegen den Ausschluß von Lesben und Schwulen aus dem Militär. Die nationalen Organisationen erklärten dies zum zentralen Thema, in der Annahme, daß dies auch an der Basis Konsens sei. Doch dies sollte sich als schwerwiegender Irrtum erweisen. Die Kampagne scheiterte unter anderem am mangelnden Rückhalt der Basis für dieses Thema, so Vaid. Bezeichnend sei auch, wie das Thema auf die Tagesordnung kam: Der schwule Millionär David Geffen versprach, die Kampagne zu finanzieren. Ein Geldgeber und nicht politische Erwägungen bestimmten die Agenda. Der Zugang zum Weißen Haus sei mit Einfluß verwechselt worden, kritisiert Vaid.
Weil die Politik der Lobby-Organisationen „von oben nach unten“ wenig Erfolg hat, drängt sie auf eine Umkehrung des Prinzips: Nur eine starke, vernetzte Bewegung an der Basis könne in Washington den nötigen Druck machen und der gut organisierten, religiösen Rechten die Stirn bieten.
Zudem, so Vaid, sei die Bewegung von weißen, schwulen Männern dominiert. So stoppten Schwulen- Organisationen erst auf massiven Druck von Feministinnen die Zahlung von Wahlkampfspenden an Politiker, die sich zwar für schwule Rechte, aber gegen Abtreibung aussprachen.
Vaid hegt die Utopie eines breiten Minderheitenbündnisses von Afro-Amerikanern, Einwanderern lateinamerikanischer und asiatischer Herkunft, Frauen, Lesben und Schwulen. Sie müßten, so Vaid, ihre Kräfte im Kampf um Bürgerrechte bündeln: „Die gemeinsamen Wurzeln der Unterdrückung werden noch zuwenig erkannt.“
Urvashi Vaid: Virtual Equality. The Mainstreaming of Gay and Lesbian Liberation. Doubleday, New York 1995, 440 Seiten, 24 Dollar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen