: Glaube, Liebe, Hoffnung, Ficken
Beim 32. Berliner Theatertreffen waren etliche Versuche mittelalter Theatermacher zu beobachten, sich durch Vulgarität zu verjüngen. Ist das Bildertheater der 80er Jahre am Ende? Und wo bleibt die Verjüngung der Kritik? ■ Von Sabine Seifert
Der Hamburger Intendant Jürgen Flimm erzählte eine Anekdote, die mit trockenem norddeutschem Humor den typischen Theatergänger aufs Korn nimmt: „Ich bin seit 40 Jahren Abonnent beim Thalia, ich guck schon gar nicht mehr hin.“ Wie wär's, wenn man diese Anekdote abwandelt? „Ich bin seit 40 Jahren Kritiker, ich guck schon gar nicht mehr hin.“ Soviel zum Thema Verjüngung, die ja auch im Theater und beim Theatertreffen und in der Theatertreffen-Kritikerjury als dringlich angesehen wird.
In diesem Jahr war es also das alte Modell – die im Schnitt sicher nicht mehr ganz junge neunköpfige Kritikerjury –, die uns einen Bühnenreigen mit zehn verschiedenen deutschsprachigen Aufführungen beschert hat: sechs kamen aus den alten Bundesländern, je eine aus Berlin und Dresden, eine aus Zürich und zwei von der Wiener Burg. Manche Inszenierung – wie etwa die Eröffnungsvorstellung mit Ibsens „Wildente“, inszeniert von jenem oben zitierten Herrn aus Hamburg – war trotz exquisiter Schauspieler erlesen langweilig: das Schnarchen der Kritiker, ich hör schon nicht mehr hin.
Franz Xaver Kroetz hat in seiner Karriere als Volksdramatiker schon erhebliche Höhen und Tiefen überwunden. Mit seiner eigenen Inszenierung von „Der Drang“, einer Neuauflage des 20 Jahre älteren Stücks „Lieber Fritz“, feierte Kroetz vor etwa einem Jahr sein soundsovieltes Comeback an den Münchner Kammerspielen.
Es geht um den männlichen Drang zur Selbstbetätigung und Selbstbestätigung; Otto kommt nicht mehr häufig genug an seine Gattin heran, legt selbst Hand an sich sowie die Gärtnereigehilfin und redet sich in heiße Phantasien von seinem Schwager Fritz, der als Voyeur eine Gefängnisstrafe absitzen mußte. Fast möchte man meinen, auch diese Problematik sei ein Generationenproblem, ein Problem der Fünfzigjährigen; allerdings ist Autoren von solcher Art Verjüngungskur, als straffe es Haut und Glieder, möglichst viel vom Ficken zu reden, abzuraten. Und es dann auf der Bühne auch noch nachstellen zu lassen, läßt jeden Regisseur alt aussehen.
Auffällig, in wie vielen Stücken in diesem Jahr vom Ficken oder Scheißen die Rede war. Anders als bei den Österreichern Schwab und Jelinek, die ja Kunstsprachen entwerfen, die das Vulgäre, Obszöne wie Bonmots aus den Mündern der Schauspieler gleiten lassen, ist Kroetz dem Realismus verhaftet. Wohingegen Schwabs „Präsidentinnen“ durch die Überzeichnung der Figuren drei fabelhaften Schauspielerinnen (Ursula Höpfner, Ortrud Beginnen und Hilke Ruthner in einer Inszenierung Peter Wittenbergs am Burgtheater) Gelegenheit gibt, mit Genuß in die fremde Haut zu schlüpfen, die Rollen regelrecht zu zelebrieren und damit eine Übereinstimmung mit sich selbst, ihrer Umgebung und ihrem Publikum zu schaffen. Kroetz-Menschen sind bemitleidenswert plumpe Geschöpfe dagegen und auch gar nicht nett anzusehen.
„Ich mochte das Stück nicht besonders, es kam mir so sozial herzlos vor“, erzählt Frank Castorf in einer Publikumsdiskussion. „Ein Stück, das man rausrotzen muß, das herausgedrückt werden muß“, so beschreibt er Elfriede Jelineks „Raststätte oder Sie machen's alle“, das er als Gast fürs Hamburger Schauspielhaus in Szene gesetzt hat. Allerdings habe er bei der Arbeit immer so eine Sehnsucht nach Schillers Balladen verspürt. So trist, so wüst, so öd, so säuisch und so stellenweise komisch das Stück auch daherkommt, so erstaunlich altmodisch ist es letztlich mit seinem ganzen aufklärerischen Impetus. Partnertausch als Symbol der Warengesellschaft, Austauschbarkeit der Beziehungen, Entfremdung vom wahren Selbst – hinter der gewaltigen Materialschlacht von Wort und Müll bleibt die marxistisch-feministische Weltanschauung der Jelinek immer sichtbar.
Gespickt mit komischen und bedeutungsschweren Jelinek-Sätzen, gerät die ganze Klo- und Scheißhausarie Castorf eher zum Slapstick. Da fallen die Scheißhaufen einfach so vom Himmel – und das Raststättenambiente ist ockerbraun, ganz wie in den guten alten DDR-Zeiten. Jelinek bedient sich der und verkehrt die Boulevard- Technik des cosi fan tutte, so machen's alle; nur der Regisseur tut am Ende nicht mehr mit, läßt die Regieanweisungen zitieren und die Dichterin mit blinkenden Brüsten und blinkender Möse kleine hilflose Leuchtsignale in die Bühnenfinsternis senden. Das ist keine Denunziation der Autorin, sondern echtes, erarbeitetes Mitleid.
Auch in der Theaterfassung von Jean Eustaches „La Maman et la Putain“, die das Schauspielhaus Bochum in der Regie von Jürgen Gosch nach Berlin brachte, wird sich (wie bei Kroetz) ständig an- und ausgezogen, von einem Bett ins andere gehupft und währenddessen furchtbar viel vom Ficken geredet; aber bei diesem Nach- 68er-Stück, das eigentlich ein wunderbarer Film ist (aus dem Jahr 1973), ist die Menschenzeichnung viel subtiler, werden drei Menschen – ein Mann, zwei Frauen – in ihrer Dreieckskonstellation beschrieben.
Leider funktioniert das Kammerspiel auf der Bühne nicht; es fehlt das Draußen als Kontrast, denn ein paar Bistrotische machen noch kein Pariser Straßenflair, und auch die häufigen Szenenwechsel ersetzen keinen filmischen Schnitt. Wo im Film übergangslos von einer Szene in die nächste gesprungen werden kann, sieht man auf der Bühne den Schauspieler eben doch abgehen und wiederkommen, trägt die Requisite etwas rein oder raus. So verlangsamt sich der Rhythmus, statt beschleunigt zu werden, und mindert die Konzentration. Um hier mit Theatermitteln eine komplizierte Geschichte einfach zu erzählen, müßte mit diesen Mitteln viel reflektierter umgegangen werden.
Michael Simon, der mit einer rauhen Version des „Black Rider“ (Text: William Burroughs, Musik: Tom Waits) für das kleine Dortmunder Schauspiel einen großen Erfolg verbuchen konnte, stößt bei einer Publikumsdiskussion ins gleiche Horn und wirft sich dabei in die Brust: Das Bildertheater der 80er Jahre sei vorbei, das blockiere nur den Spielbetrieb. „Wir müssen dazu zurückkehren, wieder Geschichten zu erzählen“, meint er, das sei „theaterpolitisch eine Aufgabe, die Schauspieler wieder dazu zu bringen, zu spielen.“ Das klingt fast ein wenig großspurig für den ehemaligen Bühnenbildner Heiner Goebbels' und auch ein wenig unglaubwürdig für einen kommenden Regiestar, der soeben vom Burgtheater, den Münchner Kammerspielen und der Berliner Volksbühne unter Vertrag genommen wurde und damit die kleinen Bühnen für die großen Häuser bereits aufgibt.
Ziemlich zu Anfang des Theatertreffens fand ein Symposium, veranstaltet von Theater heute, zum Thema „Innere Notwendigkeit des Theaters“ oder ähnliches statt. Hier berichtete Jürgen Flimm von seinen Spielplansorgen, hier richtete der Theaterkritiker Ivan Nagel die folgenden schönen Worte an die Theaterleute selbst: „Befragt Euch selber, und dann lügt nicht auf der Bühne.“ Wie wäre es, wenn man auch diese Worte für die Kritiker abwandelte? „Befragt Euch selbst, und dann lügt nicht in der Zeitung!“ Da gab es sicher noch das interessante, wenn auch etwas zu didaktisch geratene Sektenstück des Züricher Theater am Neumarkt, wurden mit Irmgard Langes Inszenierung von Hórvaths „Glaube Liebe Hoffnung“ im Berliner Tempodrom eine neue Spielwiese und Spielweise erkundet. Aber sonst, all die vielen Stunden, die ich gelangweilt dagesessen hab? Ich zähl sie schon gar nicht mehr.
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