piwik no script img

Glasmurmeln klicken hell

■ Mit einem Programm musikalischer Querköpfe riß die Kammerphilharmonie das Publikum in der Glocke vom Hocker

Die Aufführung von Jugendwerken musikalischer Querköpfe verspricht zumeist aufregende Konzerterlebnisse. Kann aber den Musikfreund ein Sammelsurium von Jugend- und Frühwerken angepaßter Meister vom Hocker reißen? Es kann, wie die stets unangepaßte Deutsche Kammerphilharmonie am Donnerstag abend unter Hilfestellung des russische Pianisten Mikhail Pletnev und des fast jugendlichen Dirigenten Christian Hommel, der dem Ensemble früher mal als Solo-Oboist zur Seite stand., unter Beweis stellte.

Ausgewählt an diesem überaus denkwürdigen Abend in der Glocke: ein frühes und ein etwas reiferes Klavierkonzert des gemütlichen Oberhofkapellmeisters Haydn, eine Streichersinfonie des vorpubertären Mendelssohn, die der kindliche Meister für großes Orchester uminstrumentiert hatte und eine Studienarbeit des jungen Kurt Weill, als er noch nicht so recht wußte, ob er nicht lieber doch sein Heil im breiten Strom der deutschen Spätromantik suchen sollte.

Weills kleine Orchestersuite in E, jüngst vom Orchester in Dessau erstmals aufgeführt, die Christian Hommel kompetent leitete, dokumentiert eindrucksvoll den Stand der musikalischen Dinge zu Beginn der Weimarer Republik. Noch schaut dem Komponisten Johannes Brahms in Gestalt Max Regers über die Schulter. Schon ein bischen mutiger greift der junge Kurt zu Malers verqueren Walzerklängen, kehrt denn aber doch nach Umwegen über den dunkel-reaktionären Pfitzner zur erhabenen polyphonen Heiterkeit Max Regers zurück.

Ob Anpassung oder vielleicht doch hinterhältige Karikatur mag dahinstehen, im 2. Satz, einem Adagio, kann man jedenfalls ergriffen in weitgeschwungenen suggestiven Melodiebögen über starrem Rhythmus dem Mahagonny-Weill lauschen. Aus der Frühphase der Moderne ging's schockartig zurück in die Frühphase der Klassik. Unter des Pianisten stilsicherer Leitung mittels freundlich-aufmunterndem Blickkontakt ertönte Haydns F-Dur-Konzert.

Hell und klar durchflutete Märzens Sonne den düsteren Glockensaal. Glockenrein klickten des Klavieres naiven Töne wie Glasmurmeln auf gefließten Küchenboden. Spieluhrartig mit kunstvoll nuancierten Abweichungen vom mechanischen Gang der Dinge spulten Solist und Orchester dieses kleine, für den höfische Gebrauch bestimmte Werk ab, und rissen das überrumpelte Publikum zu heftigen Applausattacken hin. Dem blieb nichts anderes übrig als sich hinreißen zu lassen

Das folgende Konzert in D-Dur markierte Haydns behutsamen Ausstieg aus der Gebrauchsmusik. Ins fröhliche, unkomplizierte, nach klassischen Spielregeln gearbeitete Getümmel mischen sich nachdenkliche, das musikalische Geschehen reflektierende Töne. Pletnevs Spiel demonstriert diese Einbrüche des Individuums ins klassische Reglement mit virtuoser Raffinesse und sensibler Differenzierungskunst.

Nach dieser Präsentation beider Konzerte kann man sich kaum erklären, wieso auf den zahlreichen Haydnportraits immer ein Zopf zu sehen ist. Zum gänzlich unerwarteten Höhepunkt geriet Mendelssohns Streichersinfonie D-Dur Nr.8 im großorchestralem Gewande. Aufhorchen ließ schon die langsame Einleitung des 1. Satzes, in der nach harten Paukenschlägen ungewohnt grüblerische Streicherklänge nach sich selbst suchten. Staunen ließ vor allem der von den tiefen Streichern dominierte langsame Satz, der auf Bach zurückgreifend den späten bitter werdenden Mendelssohn vorwegnimmt. Dies Adagio allein widerlegt eindrucksvoll das gängige und arrogante Bild vom seichten Schönschreiber.

Das Orchester musizierte mit spürbarer Begeisterung hier ohne Dirigenten, allein der Bogen des ersten Geigers ersetzte den Taktstock. Mendelssohn erklang rasant, virtuos, exakt durchgearbeitet und zuweilen gar widerborstig. Das Publikum war vom Hocker gerissen und dankte mit intensivem Applaus. Mir bleibt nur noch besonderen Dank den Männern am Kontrabaß auszusprechen, die ihren meist unbeachteten Beitrag zum orchestralen Ganzen mit großer Hingabe sehens- und hörenswert abgeleistet haben.

Mario Nitsche

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen