Gipfeltreffen EU-Türkei: Das große Draußen
Für syrische Flüchtlinge gehen die Grenzen europaweit zu. Am Sonntag verhandelt die EU mit der Türkei über einen Flüchtlingsstopp.
Die Polizisten schnappten uns gleich. Einer schlug mir in den Rücken und auf den Kopf. Dann rammte er mir das Gewehr in die Rippen. Als ich auf dem Boden lag, trat mich ein anderer vor den Kopf, meine Brille zerbrach. Warum attackierten sie mich dermaßen? Hielten sie mich für einen Schmuggler? Keine Ahnung. Am Ende brachten sie uns zurück zur Grenze, richteten ihre Gewehre auf uns und schrien, wir sollten abhauen, zurück nach Syrien.“
Das sind die Worte eines Mannes aus Daara, die zeigen, wie streng die Türkei ihre Grenze zu Syrien inzwischen abschottet. Seine Geschichte ist kein Einzelfall. 51 Syrer, denen irgendwie doch noch die Flucht in die Türkei gelungen ist, hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in der zweiten Oktoberhälfte befragt. Alle berichteten, dass die türkischen Polizisten und Soldaten seit mehreren Monaten keine Flüchtlinge mehr über die Grenze lassen.
Die einzige Möglichkeit, die es noch gebe, sei, es nachts mit einem Schmuggler durch das hüglige Gelände am westlichen Ende der Grenze, bei Idlib und Latakia, zu versuchen. Mehrere Tausend Flüchtlinge warteten Nacht für Nacht in den Hügeln auf syrischer Seite auf die Chance, die Grenze zu überqueren. Wer geschnappt wird, kommt in ein Militärlager und wird nach einigen Tagen in Haft oft in Gruppen zu Hunderten wieder abgeschoben. Wer Pech hat wird geschlagen und gequält, bevor man ihn zwingt, wieder nach Syrien zurückzulaufen.
Rückwirkungen auf die Grenze
Vom Horror an der syrischen Grenze bekommt man in Europa nichts mit, und auch türkische Medien berichten so gut wie gar nicht darüber. Doch die gewaltsamen Zurückweisungen der vor Luftangriffen und den Terrormilizen des IS fliehenden syrischen Zivilisten sind auch ein Ergebnis der europäischen Politik. Die Forderung nach einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen, einem Flüchtlingsstopp gar, hat Rückwirkungen bis auf die syrisch-türkische Grenze.
Die Türkei, so HRW, verdient Respekt und Anerkennung dafür, dass sie in den letzten drei Jahren mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und versorgt hat. „Trotzdem ist sie nach den Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet, weiterhin ihre Grenze für Asylsuchende Syrer offen zu halten“, schreibt die Menschenrechtsorganisation in ihrem Report. Doch das ist längst nicht mehr der Fall und könnte auch bald an der türkisch-griechischen Grenze zu Ende sein. Rund 420.000 syrische Flüchtlinge sind allein in diesem Jahr über die Türkei nach Griechenland gereist. Damit soll jetzt Schluss sein.
Am Sonntag treffen sich die Chefs der EU-Staaten in Brüssel mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoğlu, um ein umfassendes Abkommen zur Regelung der Flüchtlingsfrage mit der Türkei abzuschließen. In der letzten Fassung der in Brüssel vorbereiteten Vereinbarung steht, die „EU und die Türkei werden ihre Zusammenarbeit mit dem Ziel verstärken, eine illegale Einreise in die EU zu verhindern“. Darüber hinaus soll verhindert werden, dass Flüchtlinge überhaupt erst „irregulär“ in die Türkei kommen. HRW fordert die EU Staaten deshalb auf, bei den Verhandlungen festzulegen, dass die türkischen Grenzer auch weiterhin Asyl suchende Syrer ins Land lassen.
Das wird wohl kaum passieren. Die Regierungschefs und Präsidenten der EU-Staaten, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, haben im Moment ganz andere Prioritäten. Der massenhafte Zuzug von Flüchtlingen in diesem Jahr droht die EU in ihren Grundfesten zu erschüttern und die Bundesregierung vor eine Zerreißprobe zu stellen. Zwar will Merkel nach wie vor die Fluchtursachen bekämpfen, doch erst einmal muss die Zahl der Flüchtlinge drastisch sinken, und zwar schnell. Der Druck, rasch zu Ergebnissen zu kommen, erweist sich als enorme Bürde.
Ständiger Pendelverkehr
Denn im Gegensatz zur EU hat die türkische Regierung vergleichsweise viel Zeit. Im ständigen Pendelverkehr zwischen Brüssel und Ankara hat der Holländer Frans Timmermans, der erste von sieben Vizepräsidenten der EU-Kommission, in den letzten Wochen geradezu verzweifelt versucht, ein Abkommen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der türkischen Regierung auf den Weg zu bringen. Doch wenn die EU-Spitzen am Sonntag mit Ahmet Davutoğlu zusammenkommen, ist noch gar nichts klar, geschweige denn liegt ein unterschriftsreifes Papier auf dem Tisch.
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will der Bundeswehr ein neues Image geben: als Armee der Berater und Helfer. Wie das einer sieht, der in Afghanistan war, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. November 2015. Außerdem: Wie Beautybloggerinnen im Kampf gegen den Terror helfen könnten. Und: Der Kabarettist Frank-Markus Barwasser hört auf. Ein Abschiedstreffen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Das fängt schon beim scheinbar einfachsten Punkt an, dem Geld. Die EU-Kommission bietet der Türkei für die Unterstützung der 2,2 Millionen syrischen Flüchtlinge, die bereits im Land sind, drei Milliarden Euro an, verteilt auf die kommenden drei Jahre.
Abgesehen davon, dass das Geld noch längst nicht zusammen ist – die Kommission will 500.000 Euro bereitstellen, den Rest sollen die Mitgliedsländer aufbringen, doch außer Deutschland hat sich noch kein weiterer Zahler gefunden –, hat die türkische Regierung da ganz andere Vorstellungen. Drei Milliarden ja, aber jedes Jahr, also neun Milliarden in drei Jahren. Schließlich hat die Türkei bis jetzt alleine bereits 7,5 Milliarden Dollar für die Flüchtlinge ausgegeben, ohne große Hilfe aus Europa, wie Erdoğan und Davutoğlu zu Recht betonen.
Zweitens will die EU der Türkei einen „Neustart“ in den Beitrittsverhandlungen, die seit Jahren auf Eis liegen, anbieten. In der Türkei glaubt das niemand, denn Merkel und Hollande sind jetzt so wenig bereit, dem Land eine echte Beitrittsperspektive anzubieten, wie Merkel und der damalige Präsident Sarkozy es vor neun Jahren waren.
Die Zeit vor und nach Paris
Bleibt als Letztes die türkische Forderung nach der Aufhebung der Visumpflicht für die Einreise in die EU, die bei anderen Beitrittskandidaten nach Beginn der Verhandlungen auch zur Geltung kam. Gerade Deutschland hat sich lange dagegen gesträubt, doch unter dem Druck der „Flüchtlingswelle“ schien Merkel zuletzt bereit, umzusteuern und dem Anliegen zuzustimmen. Doch das war vor Paris.
Jetzt die Visumpflicht für knapp 80 Millionen Türken aufzuheben dürfte wesentlich schwieriger werden, als es das vor den Terroranschlägen war. Ohne Aufhebung der Visumpflicht ist die Türkei aber nicht bereit, ein Abkommen zu unterzeichnen, mit dem sie sich verpflichtet, illegal nach Griechenland eingereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Das aber ist das Kernelement, um den Zuzug in die EU zu stoppen.
Kommt es jedoch zu keiner Vereinbarung mit der Türkei, wird es wohl an der griechisch-türkischen oder bulgarisch-türkischen Grenze ähnliche Szenen geben wie schon an der türkischen Grenze zu Syrien: gewaltsame Zurückweisungen von Flüchtlingen mit allen hässlichen Begleiterscheinungen, die dazugehören. Denn die Sicherung der EU-Außengrenze, so betont auch Kanzlerin Merkel in letzter Zeit immer wieder, ist die unbedingte Voraussetzung, um die bereits gekommenen Flüchtlinge integrieren und die innere Freizügigkeit aufrechterhalten zu können.
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