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Giftliste bleibt noch unter Verschluß

■ 50-Milliarden-Loch im Haushalt bestätigt. Kanzlerrunde vertagt Entscheidungen über konkrete Sparmaßnahmen auf Ende April. Matthäus-Maier (SPD): „Es muß ohne Tabus gespart werden“ – nur nicht bei der Lohnfortzahlung

Berlin/Bonn (taz/AFP/dpa) – „Das Koalitionsgespräch war nicht darauf angelegt, Entscheidungen herbeizuführen.“ Nur dürre Worte kamen Friedrich Bohl (CDU) am Sonntag zu mitternächtlicher Stunde über die Lippen, als er nach der Sitzung der Spitzen von Union und FDP vor die Tore des Kanzleramts trat, um die Öffentlichkeit zu „unterrichten“. Jede konkrete Äußerung zu dem erörterten Sparpaket vermied der Kanzleramtsminister geflissentlich. Die BürgerInnen bleiben also weiter im ungewissen über die „Giftliste“ mit den Kürzungen im Sozialsystem. Erst nach der dritten Gesprächsrunde zum Bündnis für Arbeit am 23. April will die Koalition ihre Pläne verkünden.

Doch die Marschroute steht fest. 50 Milliarden Mark müssen Bund, Länder und Gemeinden einsparen. Allein die Hälfte dieses Betrags, so bestätigte FDP-Sprecher Hans-Rolf Goebel gestern, benötigt Finanzminister Waigel zur Konsolidierung des Bundeshaushalts 1997.

Um dieses Milliardenloch zu stopfen und zugleich die hohen Sozialversicherungskosten zu senken, will die Bundesregierung ein Gesamtprogramm mit einschneidenden Sparmaßnahmen und Konzepten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze vorlegen. Das kündigte Bohl am Sonntag nach der knapp fünfstündigen Koalitionsrunde an. Zu den anvisierten Sparmaßnahmen im Bereich Renten, Lohnfortzahlungen oder Nullrunden der Beamten gab es gestern noch keine Stellungnahmen.

Die Sozialdemokraten kritisierten, daß es noch immer nicht zu konkreten Entscheidungen gekommen sei. „Wieder einmal erschweren Regierung und Koalition eine detaillierte und seriöse Beratung der notwendigen Gesetzesänderungen“, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Joachim Poß. Der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Diller, meinte, „bloße Ankündigungen“ seien noch kein Sparpaket, sondern eher eine „finanzpolitische Mogelpackung“.

Die SPD-Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier zeigt sich hingegen kompromißbereiter. Sie erklärte gegenüber der taz, natürlich sei klar, daß gespart werden müsse – und zwar „ohne Tabus“. „Ich sage jetzt zu keinem einzigen Vorschlag nein, außer bei der Lohnfortzahlung.“ Die Haushaltslöcher seien durch Sparen allein aber nicht in den Griff zu kriegen. „Dazu muß auch die Arbeitslosigkeit endlich energisch bekämpft werden.“

Beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) stieß das bisher bekanntgewordene Bonner Sparprogramm auf scharfe Kritik. Regina Görner vom DGB-Vorstand sprach gestern von „konzeptionslosen Überlegungen, in denen kein Schritt zu mehr Beschäftigung erkennbar“ sei.

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident, Kurt Beck (SPD), kündigte gestern Verhandlungsbereitschaft im Bundesrat bei der Reform der Sozialhilfe an. Als Beispiel nannte er die Kürzung der Sozialhilfe um 25 Prozent für Erwerbslose, die eine zumutbare Arbeit ablehnten. Er unterstütze dies bei einem arbeitsunwilligen 25jährigen, es dürfe aber nicht auf einen 55jährigen Facharbeiter zutreffen, der seinen Job verloren habe.

Die SPD-Führung forderte den Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat auf, am Mittwoch noch keine Entscheidungen über die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu treffen, sondern abzuwarten, bis die Bonner Koalition ihr Sparpaket vorgelegt hat. Seiten 2 und 4

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