KOMMENTAR: Ghetto Deutschland
■ Aussiedler: Deutschsein als Ausnahmezustand (S.18)
Deutschland. Aus der Ferne ist das für über zwei Millionen Menschen Heimat, Wohlstand und Farbfernsehen. Für manchen, der über vier Jahrzehnte in Gdansk oder Kaliningrad gelebt hat, anscheinend Grund genug, Frau und Kinder einstweilen zurückzulassen und noch einmal von vorne anzufangen. Zum Beispiel in Bremen.
Deutschland aus der Nähe: Das ist in Bremen eine Barakkensiedlung, in der argwöhnische Deutsche, die zwei Häuser weiter geboren wurden, vor sehnsüchtigen Deutschen, die zwei Länder weiter geboren wurden, mit Stacheldraht geschützt werden müssen. Wenn die Formalitäten erledigt sind, bleibt von den großen Träumen die Aussicht auf Arbeitslosigkeit und eine Sozialwohnung auf B-Schein. Wer dem Rückzug deutscher Truppen aus Polen mit 44jähriger Verspätung zum Beispiel nach Bremen folgt, findet ein Übergangslager, das nach spätestens einem halben Jahr zu räumen ist. Spätestens mit dem Platz in der Baracke müssen auch die über Jahrzehnte konservierten Hoffnungen aufgegeben werden. Deutschland – für Zuspätgekommene ist das ein kleines Fleckchen für Schicksalsgleiche mit Stacheldraht drumrum und jetzt ein bißchen frischer Farbe.
Klaus Schloesser
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