: Gewerkschaftsstaat? Nein danke!
Lehren aus dem Kongreß einer Noch-nicht-Gewerkschaft ■ K O M M E N T A R
Beim außerordentlichen Kongreß der DDR-Massenorganisation FDGB ist es hoch hergegangen. Der Anspruch, in einer neuen demokratischen DDR-Gesellschaft mit einer neuen Organisation aufzuwarten, ging den meisten Delegierten, die sich zu Wort meldeten, als Herzensangelegenheit über die Lippen. Auf einer rein formalen Ebene hat ein solcher Paradigmenwechsel also fast bruchlos stattgefunden. Daß auf der alten Streitfrage, ob Gewerkschaften sich als Ordnungsfaktor oder Gegenmacht verstehen (sollen), auch eine Hypothek lastet, ist für die FDGBler allerdings kein Thema. Tatsächlich hat der FDGB sich niemals als reine Interessenvertretung der Werktätigen verstanden; er begriff sich immer gleichzeitig auch als Vertreter der EigentümerInnen an den Produktionsmitteln. Faktisch war in der DDR hierfür aber nur der Staat dingfest zu machen, weshalb der FDGB sich letztlich als zweite zentrale Instanz zur Verwaltung des gesamten Gemeinwesens fühlte. Es wäre nun ein Irrtum zu glauben, die FDGBlerInnen wären sich dessen gar nicht bewußt und setzten ganz selbstverständlich ihre Organisation mit einer „normalen“ Gewerkschaft gleich. Ihren unmäßigen Anspruch auf die Macht haben sie nämlich in ihrem Aktionsprogramm und im Entwurf zum Gewerkschaftsgesetz inzwischen dokumentiert. Wenn es nach ihnen geht, wird es in Zukunft überhaupt keine einzige politische Entscheidung mehr in der DDR geben, die ohne sie gefällt werden kann. Will der FDGB nach dem SED-Staat nun einen Gewerkschaftsstaat?
Gesamtgesellschaftliche Entflechtung hieße also das eigentliche Gebot der Stunde. Denn daß zur Demokratie Pluralismus gehört, haben die Solidarnosc-Leute in einem langjährigen Prozeß (außerhalb der Legalität und außerhalb der Legislative) selbst erfahren und anderen begreifbar machen müssen. Eine solche Phase der „Positionierung“ - um es mit einem staatseigenen Begriff zu sagen - fehlt den Menschen, ihren Organisationen und Institutionen in der DDR. Sollte die Sehnsucht nach einer „Diktatur der Werktätigen“ jedoch nur den Hirnen einiger alter und neuer Funktionäre entsprechen, dann ist die vielbeschworene Basis allerdings jetzt gefordert, diesem Zauber ein schnelles Ende zu bereiten.
Das ist die Lehre aus diesem Kongreß und die vielleicht letzte Chance für einen runderneuerten demokratischen FDGB. Zuspätkommen wird auch hier mit Strafe belegt. Im allgemeinen Verfallsprozeß der DDR-Institutionen sind die Gewerkschaften keinesfalls automatisch ausgenommen, zumal sie als treibende Kraft in der früheren Opposition nicht auftauchten und daher keine Pluspunkte sammeln konnten. Für einen Neuanfang stehen sonst eher die Betriebsräte bereit und die neugegründeten unabhängigen Gewerkschaften. Die Konkurrenz schläft nicht.
Anna Jonas
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