Gewerkschaften in Deutschland: Die zersplitterte Arbeitermacht
In Europa protestieren Hunderttausende gegen harte Einschnitte in den Sozialstaat. In Deutschland tut sich wenig. Die Interessen der einzelnen Gewerkschaften sind zu unterschiedlich.
Hartmut Riemann ist der Mann, der für diese Spaltung steht. In seinem mokkafarbenen VW Passat fährt der Gewerkschaftssekretär der IG Metall in diesen Tagen viel durch die Republik der Kämpfenden. Am Dienstag war er im Sauerland, bei den "Heuschrecken", wie er sagt, da ging es um Entlassungen. Und Mittwochabend saß er am Verhandlungstisch in Düsseldorf. Der Stahlabschluss und 6 Prozent mehr Lohn, das ist sein Kampf. "Wenn es um Hartz IV geht, dann können wir nicht mobilisieren", sagt Hartmut Riemann. Und er sagt es verzweifelt.
In Europa protestierten gestern Hunderttausende von Menschen. In Spanien riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik. In Brüssel versammelten sich bis zu 100.000 Menschen, um gegen die Arbeitsmarktreformen der europäischen Regierungen zu demonstrieren.
Und in Deutschland? Kopfpauschale, Rentendebatte und Hartz IV - all das erregt seit Monaten die öffentlichen Debatten hierzulande. Glaubt man einem wichtigen Genossen von Hartmut Riemann, dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Michael Sommer, dann folgt auf die Regierungspläne von Angela Merkel ein "heißer Herbst". Er könnte sich irren.
Es waren nicht die Gewerkschaften, sondern das globalisierungskritische Netzwerk Attac, das mit symbolischen Bankbesetzungen, mit Infoständen und Straßentheater beim europaweiten Aktionstag gestern ein kleines Zeichen in Deutschland setzen konnte. In 75 Städten gingen die Globalisierungsgegner auf die Straße. Gewerkschaftliche Großdemonstrationen und Massenmobilisierung - das ist in Deutschland hingegen auch weiterhin nicht geplant. Und das ist durchaus eine Strategie.
"Wir haben eine klare Verabredung. Die Gewerkschaften machen ihre Aktionen vor allem auf Betriebsebene", heißt es beim DGB. Michael Sommers heißer Herbst findet in Plochingen, Salzgitter, in Kempten und Nerchau, in Eisenach und in Kamp-Lintfort statt. Dort, wo Gewerkschafter ihre Infostände vor den Werkstoren aufbauen. In "aktiven Mittagspausen" reden sie über das, was sie bewegt. Es ist ein heißer Herbst für die Lokalnachrichten, doch in der Hauptstadt ist er keine Meldung wert.
Denn um den dramatisch schwindenden Mitgliederzahlen zu begegnen - in den letzten zehn Jahren verloren die DGB-Gewerkschaften fast 20 Prozent ihrer Mitglieder -, führen die Gewerkschaften vor allem die Kämpfe, die ihre Mitglieder überhaupt noch interessieren. Hartmut Riemann kämpft für die Löhne bei den Stahlarbeitern, Ver.di um die kommunalen Finanzen, und die IG BCE schickt Bergleute auf die Straße, weil denen die Subventionen ausgehen.
Und während die ganze Republik über die minimalen Hartz-IV-Erhöhungen und eine Existenz in Würde streitet, warten die Arbeitslosen weiterhin vergeblich auf mehr als rhetorische Solidaritätsbekundungen aus Reihen der Gewerkschaften: "Es ist nicht nachvollziehbar, dass der DGB sich in der Praxis kaum um die soziale Frage kümmert", sagt Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosenforums in Deutschland. "Michael Sommer wettert zwar gegen die Hartz-Änderungen, das ist aber auch schon alles."
Rückendeckung bekommt Behrsing auch von Bernd Riexinger. Er ist Geschäftsführer des Ver.di-Bezirks Stuttgart und sieht, was gerade vor seiner Haustüre los ist. Zehntausende demonstrieren dort wöchentlich gegen einen Hauptbahnhof. Aber aus Protest gegen Hartz IV findet kaum jemand auf die Straße. "Es fehlt an einer Parole, hinter der sich alle versammeln können", sagt er. "Das müsste der DGB leisten." Doch das Klein-Klein der Gewerkschaftskämpfe, die fehlende gemeinsame Linie - das nennen die Arbeitnehmervertreter tatsächlich noch ein "dezentrales Aktionskonzept".
Manfred Klöpper ist Mitglied im Exekutivkomitee des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Der DGB-Regionsvorsitzende aus Oldenburg kennt die internationale Perspektive, er hat die gestrige Brüssel-Demo mitorganisiert, er weiß, was los ist. Der Gewerkschafter sagt: "Das getrennte Marschieren in Deutschland ist eine gewollte Schwäche." Die Forderungen der Gewerkschaften "erscheinen in der Öffentlichkeit so verschieden wie der Bestand in einem Warenhauskatalog."
Davon kann Hartmut Riemann in seinem Mokka-Passat ein Lied singen. Er ist unterwegs zum Stahltarifvertrag. Der 50-jährige Gewerkschafter würde gerne mehr für die soziale Frage kämpfen und nicht nur für den Lohn in seiner Branche. "Aber es nützt nichts", sagt er. "Wir können derzeit nur in der Tarifpolitik Macht ausüben." Gleich will Hartmut Riemann sechs Prozent für seine Leute rausholen. Das ist sein kleiner Beitrag für den heißen Herbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen