Gewaltexperte Gugel über Zivilcourage: "Schweigen ist Mittäterschaft"
Wenn wie in Berlin-Friedrichshain ein Mensch von Nazis verprügelt wird, kann man auch in der Minderzahl helfen, erklärt der Gewaltexperte Günter Gugel.
taz: Herr Gugel, vier Männer schlagen das Opfer so lange, bis es bewusstlos wird. Die ZeugInnen rufen die Polizei, greifen selbst nicht ein. War das richtig?
Günther Gugel: Es war richtig, die Polizei zu rufen. Solche Situationen sind immer emotional aufgeheizt und mobilisieren Ängste. Sie erfordern aber ein sofortiges Handeln. Das setzt bestimmte Kenntnisse und Selbstsicherheit voraus.
Welche Kenntnisse?
Dazu gehört, eine Situation einschätzen zu können: Was ist sinnvoll? Was ist realistisch? Vor allem die Fähigkeit, das Opfer in Sicherheit zu bringen und die Täter festzustellen. Man muss auch wissen, dass man die anderen Zeugen direkt ansprechen und ihnen Handlungsvorschläge machen muss.
Günter Gugel, 60, Diplompädagoge und der Geschäftsführer des Instituts für Friedenspädagogik Tübingen. Er ist Mitherausgeber von "Zivilcourage lernen - Analysen, Modelle, Arbeitshilfen".
Und selbst eingreifen?
In einer Vier-zu-eins-Situation mit mehreren brutalen Schlägern ist es nicht sinnvoll, körperlich einzugreifen. Dadurch könnte man selbst zum Opfer werden. Das müssen Profis machen wie die Polizei. Anders ist es mit einer Übermacht an Zuschauern, die gemeinsam handeln können.
Was sollen die Leute tun?
Ratschläge sind in einer konkreten Gewaltsituation, in der sofortiges Handeln erforderlich ist, meist nicht abrufbar, wenn man dies nicht intensiv trainiert hat. Deshalb wird man auf eingeschliffene Routinen zurückgreifen. Die absoluten Basics, die die Polizei empfiehlt, sind: handeln, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, Hilfe zu mobilisieren, indem ein Notruf abgesetzt wird und sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen.
Wie soll man konkret auf den Täter zugehen?
Gemeinsam zu handeln und Selbstsicherheit zu zeigen verdeutlichen dem Täter, dass die Eingreifenden es ernst meinen. Klar zu formulieren "Lassen Sie die Person frei" informiert den Täter über das Handlungsziel. Der Täter sollte nicht provoziert werden, indem man ihn duzt, beschimpft oder beleidigt. Man muss sehr sachlich und bestimmt mit ihm reden, denn es geht nicht darum, ihn herauszufordern, sondern jemanden aus einer Gefahrensituation herauszuholen. Eine Übermacht von Entschlossenen kann einen Einzeltäter, wenn er unbewaffnet ist, auch körperlich festhalten.
Wann soll man eingreifen? Bei derber Beschimpfung? Nach dem ersten Schlag?
So früh wie möglich, da sich solche Situationen leicht aufschaukeln können. Bei Diskriminierungen oder verbalen Demütigungen muss man deutlich machen, dass man keine Koalition mit dem Täter eingeht - dass er dieses Verhalten unterlassen soll. Wichtig ist, Öffentlichkeit herzustellen.
Wie geht das?
Laut und deutlich zu sprechen und nicht hinter vorgehaltener Hand zu flüstern. Schweigen bedeutet zumindest für die anderen stilles Einverständnis und letztlich Mittäterschaft.
Ein Mann geht rau mit seiner Frau um - ist das deren persönliche Angelegenheit?
Wenn der Konflikt als private Situation eingestuft wird, greift man in der Regel nicht ein. Wir haben in Deutschland eine Kultur, wo das Private stark respektiert wird, was aber zur Folge hat, dass Gewalt in Beziehungen oft nicht oder sehr spät wahrgenommen wird.
Was soll man machen, wenn der Mann droht, die Frau zu Hause zu schlagen?
Wenn Sie in der Nachbarschaft leben und solche Fälle öfters beobachten: Polizei einschalten oder, wenn Kinder involviert sind, auch das Jugendamt.
Inwiefern kann man Zivilcourage trainieren?
Man trainiert Zivilcourage im Alltag, wenn man sich gegen Diskriminierung und gegen Übergriffe wendet. Das kann bei einem blöden Witz über jemanden sein, indem man dem Gruppendruck widersteht und seine eigene Meinung vertritt. Dies gelingt besser, wenn man Selbstvertrauen entwickeln konnte. Es geht um Achtsamkeit statt Gleichgültigkeit. Es geht um Widersprechen statt Schweigen. Es sind immer kleine Schritte.
Mit dem Täter sachlich reden, ihn nicht provozieren: "Lassen Sie die Person frei!"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf