piwik no script img

Gewalt"Wie schnell man sterben kann"

Am Donnerstag wurde ein 17-Jähriger wegen Totschlags zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt. Nach einem Streit am Tegeler See hatte er einen 23-Jährigen niedergestochen. Ich war Zeugin dieses Vorfalls. Seitdem stelle ich mir die Frage, ob die viel propagierte Zivilcourage einen Sinn hat.

Nicht immer kommt Gewalt so offensichtlich daher Bild: dpa

"Nach einem tödlichen Messerangriff auf einen Badegast am Tegeler See ist ein 17-Jähriger wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von acht Jahren verurteilt worden."

Zivilcourage

Die Tat am Tegeler See wirft einmal mehr die Frage nach Zivilcourage auf. Wann kann man ohne Gefahr für das eigene Leben in einen Streit eingreifen?

Für die Berliner Polizei geht die Sicherheit der Menschen vor. Deshalb rät Polizeisprecher Bernhard Schodrowski von überstürztem Handeln ab. "Bleiben Sie ruhig, vermeiden Sie jede Provokation des Angreifers, aber alarmieren Sie unbedingt die Polizei." Ein Konflikt kann auch durch den Rückzug des Opfers aus der bedrohlichen Situation entschärft werden. "Wichtig ist es", stellt Schodrowski fest, "dass die Zeugen die Situation und die Täter beschreiben können." YASMIN MUSKALA

Eigentlich schockieren mich derartige Nachrichten über Jugendgewalt kaum noch. "Brutaler Mord", "schwerer Raubüberfall", "blutige Messerstecherei" - nur noch selten stellt sich Betroffenheit ein. Diese Meldungen im täglichen Mediengewirr haben einen festen Platz in der Berichterstattung gefunden und sind austauschbar geworden. Solche Nachrichten kommen mir weit weg von meinem eigenen Leben vor - so unwirklich wie aus einem Film. Richtig wahrgenommen habe ich sie nie.

Im Juni 2007 aber brachte mich die Schlagzeile "Mord am Badesee" zum Weinen, als ich sie flüchtig am Zeitungskiosk las. An eben diesem Tag war ich auch am Tegeler See und wurde zur Zeugin der Messerstecherei, deren Täter nun zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt worden ist.

Mit einer Freundin lag ich an der wunderschönen Badestelle "Im Saatwinkel" des Tegeler Sees. Der Tag war sonnig und warm. Die Atmosphäre unter den vielen jungen Badegästen ist entspannt gewesen. Die Musik meiner Kopfhörer konnte allerdings nicht eine Diskussion übertönen, die sich zwischen einem Mann und einem Jugendlichen über die Beseitung des Mülls abspielte.

Als der Jugendliche mit seinen Freunden gehen wollte, entbrannte die Diskussion von Neuem. Kurz darauf kam die Gruppe Jugendlicher mit einem großen Knüppel zurück und begann von allen Seiten auf den Mann einzuschlagen. Währenddessen packte ich schnell meine Sachen zusammen und stellte mich ängstlich beiseite. Zu einer Reaktion war ich nicht imstande, zu verblüfft war ich über den Umschwung der vorher so entspannten Stimmung. Einige Jungs reagierten schneller und versuchten dem Mann zu Hilfe zu kommen, indem sie die Jugendlichen gewaltsam auseinandertrieben. Eine unübersichtliche Massenschlägerei war die Folge.

Meine Freundin rief die Polizei. Neben uns sagte eine ältere Dame nervös: "Gut, dass Sie anrufen. Nicht, dass die mich noch verprügeln, wenn die mich mit einem Telefon sehen." Das regte mich richtig auf. "Wenigstens die Polizei muss man doch anrufen", dachte ich.

Wie aus dem Nichts löste sich die Schlägerei auf, und ein ersticktes "Ich bekomme keine Luft mehr" hallte über den idyllischen Strand. Ein Mädchen rief verzweifelt nach Verbandszeug.

Da wurde mir klar, dass ein Messer im Spiel gewesen sein musste, das den 23-Jährigen traf. Der junge Mann starb noch am Strand in den Armen seiner verzweifelten Freunde.

Bis die Polizei und der Krankenwagen auftauchten, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. "Wie schnell man sterben kann", dachte ich entsetzt. In Sekundenbruchteilen kann ein Leben vorbei sein, obwohl man jung und gesund ist. Hinzu kam, dass das Opfer an der vorangegangenen Auseinandersetzung gar nicht beteiligt war. Er wollte nur dem Mann, der mit seinem kleinen Sohn am See war, zur Hilfe kommen.

Seitdem stelle ich mir die Frage, ob die viel propagierte Zivilcourage einen Sinn hat. Für mich traurigerweise nicht mehr. Ich habe Angst, einzugreifen. Dieser Tag am See hat mich ängstlich und defensiv werden lassen.

Dennoch würde ich jederzeit wieder die Polizei anrufen. Das erscheint mir persönlich als einzig wirksames Mittel, um gegen Gewalt und Aggression vorzugehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!