Gewalt in der U-Bahn: Im Notfall laut "Stopp" schreien

Was tun, wenn man in der U-Bahn angepöbelt wird - oder Zeuge eines Übergriffs wird? Beim Polizeiseminar "Umgang mit Aggression" lernen Teilnehmer im Ernstfall mutig zu sein.

Bei Gewalt in der U-Bahn: Nicht wegsehen, sondern helfen! Bild: Michel Filion (aka Mike9Alive)/CreativeCommons BY 2.0 US

Die Türen der U-Bahn öffnen sich, zwei Nazis in Springerstiefeln und Bomberjacken steigen ein. Sie setzen sich neben den farbigen Mitfahrer, fangen an zu pöbeln und zu drängeln. Keiner der Mitreisenden hilft. Sie sehen weg, wechseln den Platz oder steigen aus.

Die pöbelnden Nazis sind Schauspieler, die Reaktionen der Mitfahrenden wurden mit einer versteckten Kamera aufgezeichnet. Dreizehn Frauen und fünf Männer sehen den Film zum Einstieg in das Seminar der Polizei "Umgang mit Aggression und Gewalt im öffentlichen Raum". Derzeit ist das Thema wegen einiger Angriffe auf BVG-Fahrer in aller Munde. Aber eigentlich ist es ein Dauerbrenner, auch für die Polizei. Die Dienststelle für Prävention namens LKA Präv 4 bietet regelmäßig Kurse an, die sich mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen - mit Gewalt in U-Bahn, Schule, am Arbeitsplatz. Mit grundloser Gewalt, betrunkener Gewalt, Gewalt aus rassistischen Motiven. Angesprochen sind Privatpersonen oder aus beruflichen Gründen Betroffene. Obwohl es kaum Werbung für das Seminar gibt, sind viele Termine bis in den Dezember hinein ausgebucht.

Steffi und Chantal sitzen in den hinteren Reihen des Veranstaltungsraums. Sie sind angespannt, drücken sich gegenseitig die Hände. Was in dem Film Fiktion ist, hat Steffi, eine Farbige, in der Realität erlebt. Irgendwo im Berliner U-Bahn Netz, ohne einen Mitfahrer, der geholfen hätte, als die Nazis kamen. Zusammen mit ihrer Freundin Chantal ist sie zu dem Seminar gekommen. "Ich bin auf der Suche nach Wegen, um nächstes Mal anders mit der Angst umzugehen", sagt Steffi.

Ein Großteil der Teilnehmer sind Frauen. Die meisten haben einschlägige Erfahrungen gemacht. Sie erzählen von Verfolgungen auf dem Heimweg im Dunkeln, beim Joggen im Park oder in der U-Bahn. Mit verschränkten Armen hören sie Seminarleiter Timo Hartmann zu. Der versucht erst mal Vertrauen zu gewinnen: "Ich hab so ziemlich alles erlebt, was man erleben kann - ich bin da, für alle Fragen, die euch auf der Leber liegen."

Mit Beispielfilmen, Tafel, Kreide und gelben Pappkreisen ausgerüstet versucht Hartmann seinen Zuhörern Verhaltensweisen für den Ernstfall zu vermitteln. Mit Ernstfall meint er nicht nur die Momente, in denen es auf Selbstverteidigung ankommt. Es geht auch um die, bei denen andere Menschen Hilfe brauchen. Der Einführungsfilm ist nur ein Beispiel dafür, dass diese Hilfe viel zu oft ausbleibt. Auf die Frage, warum das so ist, wissen die Seminarteilnehmer viele Gründe. "Ich hab Angst davor, alleine dazustehen", platzt eine Frau heraus. Sie erntet allseitig zustimmendes Nicken. "Ich will nicht selbst was abkriegen", schließt sich ein älterer Herr aus der ersten Reihe an. Und überhaupt, die anderen machten ja meistens auch nichts, sind sich die Teilnehmer einig. Jeder redet sich ein bisschen schlechtes Gewissen von der Seele. Dieses Phänomen des kollektiven Nichtsmachens heißt in der Psychologie "Verantwortungsfusion": Je mehr Menschen sich in einer Situation befinden, desto weniger empfindet der Einzelne seine Eigenverantwortlichkeit. Mit dem Seminar wollen viele Teilnehmer einen Schritt hin zu mehr Eigenverantwortung machen. Ihren vollen Namen in der Zeitung möchte die Mehrheit dann aber doch nicht lesen.

Auf Hartmanns Frage, wer selbst schon mal Angst gehabt hat, zeigen unter verlegenem Lachen ein paar zögerliche Finger auf. Der Seminarleiter erklärt, was in diesem Fall passiert: "Wenn wir Angst bekommen, aktiviert sich der Körper blitzschnell. Er schüttet massenhaft Adrenalin aus, das Blut schießt aus dem Kopf in die Muskeln, unser Herz schlägt schneller und der Puls rast." Dieser Prozess sei es, der Menschen in eine Angststarre verfallen lasse. Wenn das Blut in die Muskeln schieße, fehle es im Kopf, so Hartmann. Der sei dann sprichwörtlich "leer" und könne nur tief Internalisiertes abrufen. In so einem Moment entscheide sich, wer wegrennt und wer draufschlägt. "Alles eine Sache der Erziehung", ist sich Hartmann sicher. Das Seminar soll dazu anregen, neue Verhaltensmuster für den Ernstfall zu erarbeiten.

Dafür hat Hartmann eine "Prinzipienkette" mitgebracht. Schritt für Schritt entblättert er eine Kette aus Pappschildern und Klebestreifen. Darauf stehen Handlungsanweisungen für bedrohliche Situationen. Man soll "seine Gefühle ernst nehmen", "nicht provozieren", "an die Öffentlichkeit gehen" und vor allen Dingen lernen laut "Stopp" zu sagen. Um das zu proben, fordert Hartmann zum Rollenspiel auf. Er zieht sich ein Käppi ins Gesicht, bedrängt eine der Teilnehmerinnen, die auf einem Stuhl in einer fiktiven U-Bahn sitzt. Er setzt sich neben sie, baggert sie platt an, kommt ihr zu nah. Sie springt auf, schreit "Stopp" und "Lassen Sie mich in Ruhe!" Die anderen Teilnehmer applaudieren. So geht das.

Garantien für das Funktionieren der Prinzipienkette möchte Hartmann aber nicht geben. "Wenn ihr eine Garantie wollt, müsst ihr euch nen Fernseher kaufen." Er empfiehlt stattdessen, das laute Schreien zu üben - im Keller oder auf einem einsamen Berg.

Zum Abschluss des Seminars schmeißt Hartmann den Beamer nochmal an. Der gleiche Film erscheint, diesmal mit Happy End. Die Mitreisenden stehen auf, helfen. Die pöbelnden Nazis verstummen. Im Abspann erscheint ein Zitat von Herbert Marcuse: "Wie mutig man ist, weiß man immer erst nachher." So wird es wohl auch den Teilnehmern des Seminars ergehen. Erst nach der nächsten brenzligen Situation werden sie wissen, ob sie genug Mut hatten.

Informationen zu weiteren Seminaren und Workshops unter: www.berlin.de/polizei/

Das nächste Seminar findet am 9. Dezember am Kaiserdamm 1 statt.

Anmeldung unter der Telefonnummer 030/4664-979415

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